Gibt es ein Mittel gegen den akustischen Weltterror?

In einem Grazer Einkaufszentrum wird heute, Montag, einem Lautstärkesünder symbolisch ein Nagel durch ein Ohr gebohrt.

Zwangsbeschallung? Oja, die gibt es. Und zwar nahezu flächendeckend, denn wo wir gehen, stehen oder fahren, plärrt uns von irgendwoher ein Lautsprecher etwas in die Ohren. Musik, dieserart ausgestreut, ist pervers. Die Frage stellt sich, ob nicht dieser gar nicht mehr aktiv zur Kenntnis genommene, passive Dauermusikkonsum für unsere Nerven mindestens so schädlich sein kann wie das Passivrauchen, dem man mittlerweile völlig den Garaus gemacht hat.

Während aber dank der kollektiven Lungenheilmaßnahme nicht mehr nur in den USA, sondern auch in Europa Legionen von Nikotinsüchtigen zur Winterszeit zitternd im Schnee vor öffentlichen Gebäuden stehen, weil sie drinnen ihrem Laster nicht mehr frönen dürfen, findet kein Mensch etwas dabei, wenn die akustische Umweltverschmutzung mittels Musik fröhlich weiter betrieben wird.

Im Gegenteil. Die Daumen-, pardon: Hörnerven-Schrauben werden von Jahr zu Jahr mehr angezogen. Das geht so schleichend wie die Nikotinvergiftung. Nur, dass keiner dagegen anzukämpfen versucht.

Ein Häuflein Aufrechter aus dem Linzer Hörstadt-Projekt gibt nicht auf. Auch wenn das dicht geknüpfte Netz westlich-zivilisatorischer Konsumbeschallung unzerstörbar scheint, ziehen die Inspektoren der Hörstadt durchs Land, um die penetrantesten öffentlichen Musikterroristen ausfindig zu machen.

Dann verleihen sie den „Zwangsbeschaller“ des Jahres. Heuer sitzt er in Graz, genau genommen in der Shoppingcity Seiersberg bei Graz. Bei einem Testkauf im Advent haben die Inspektoren im gekürten Unternehmen einen Schallpegel von über 89 Dezibel gemessen. Das ist eine Lautstärke, bei der der Gesetzgeber längst einen Hörschutz für alle Beschäftigten zwingend vorschreibt.

Im Adventstress empfinden jedoch die Kaufwütigen – wie offenbar auch die Angestellten des Unternehmens – nichts dabei. Lautstärkeschäden fallen nicht unters Nichtrauchergesetz. Dabei, so der Sprecher der Kampagne „Beschallungsfrei“, Peter Androsch, stellt eine solche Klangkulisse erwiesenermaßen eine eminente gesundheitliche Belastung für alle Beteiligten dar.

Nicht zuletzt deshalb „ehrt“ man Jahr für Jahr den „Zwangsbeschaller“. Die Trophäe wird heute, Montag, verliehen. Sie stellt ein Ohr dar, das von einem Nagel durchbohrt wird. Anschaulich. Doch ob anschaulich genug, wird die Zukunft weisen. Bis dato ist im Lande kein wie immer geartetes Bewusstsein für den akustischen Terror geweckt, dem wir alle ausgesetzt sind. Dabei sind nicht einmal ästhetische Kriterien im Spiel. Der „Zwangsbeschaller“ würde zu Recht auch gekürt, wenn er Bruckner-Symphonien in dieser Lautstärke durchs Kaufhaus schickte. (Info: www.hoerstadt.at)

E-Mails an: wilhelm.sinkovicz@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.12.2010)

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