Ein Riss, weit rechts im Betonboden

Ganz fein beginnt er, mit einem klitzekleinen Haarriss irgendwo weit rechts im Betonboden neben dem Eintretenden, der in diesem Moment überall hinsieht, nur nicht zu seinen Füßen.

Ganz fein beginnt er, mit einem klitzekleinen Haarriss irgendwo weit rechts im Betonboden neben dem Eintretenden, der in diesem Moment überall hinsieht, nur nicht zu seinen Füßen. Denn immer wieder ist es atemberaubend, in die gewaltige Turbinenhalle der Tate Modern in London zu treten. Unendlich lang, unendlich hoch, unendlich überlaufen wirkt dieser so genial unpathetisch zum Museum adaptierte Industriebau.

Aber die Füße. Sie könnten stolpern, ja stürzen, wie es schon einige vor ihnen taten, wenn ihr Kopf nicht doch noch achtsam registriert, was ihm zu Beginn so abwegig erschien. Der Haarriss beginnt zu wachsen, sich zu weiten, prescht durch den Beton, Nebenarme verlaufen sich, aber eine ungeheure Macht scheint ihn voranzutreiben. Unerbittlich reißt sie den Boden auf, bis eine Kluft durch das unprätentiöseste, manche sagen demokratischste Museumsfoyer der Welt läuft.

Über vier Millionen Besucher stürzen hier jährlich herein, ohne (gleich) zur Kassa gebeten zu werden. Diese jegliche Konkurrenz um mindestens drei Millionen hinter sich lassende Zahl macht „die Tate“ zum wichtigsten Forum für zeitgenössische Kunst. Und an Empfängen ist man hier einiges gewöhnt – künstliche Sonnenuntergänge, riesige Aussichtstürme, schnelle Rutschen. Nur keine Trennungen. Keine Barrieren. Hier nicht!

Und doch, genau das hat die kolumbianische Bildhauerin Doris Salcedo jetzt getan. Den Boden der Tate gespalten. 167 Meter lang, vom Anfang bis zum Ende. Dazwischen ist er bis zu 25 cm breit und einen halben Meter tief, in die Wände ist Maschendraht eingelassen. Nicht zur technischen Verstärkung (die Umsetzung blieb bis jetzt geheim). Sondern zur symbolischen. Es gehe um Abgrenzung und Kontrolle, um Rassentrennung und Rassenhass, sagt die Künstlerin. Um das Erlebnis, das ein Nicht-Weißer oder Nicht-Europäer hat, wenn er „ins Herzen Europas“ kommt. Dort allerdings herrscht eine Winterkälte, wie es sich der Multikultikessel London nie erlauben würde. Nach Wiederauffüllung von Salcedos Schlucht wird eine Narbe im Tate-Boden bleiben. Nicht nur dort.


almuth.spiegler@diepresse.com("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.01.2008)

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