Deutsche Orgie der Verblödung Mord an einem Nobelpreisträger

Was in der deutschen Öffentlichkeit und Kulturszene seit Wochen geschieht, sind die Demolierung der Literatur, der Verfall der Moral.

Pseudonyme gab es immer. Die Hintergründe sind vielfältig. Zwei davon aber gehören zu den selbstverständlichsten Motiven: Kreativität und Kampfgeist. Auf keinen Fall Macht oder Gier. Einige Pseudonyme begleiteten ihre Erfinder, die in der Regel Autoren sind, keine Verleger oder Agenten, ein Leben lang.

Josef Conrad etwa hieß Józef Teodor Nałęcz Korzeniowski. Er wurde am 3.Dezember 1856 als Sohn polnischer Eltern in Berdytschiw geboren, das bis 1793 polnisch gewesen war. Sein Vater war ein Schriftsteller, der Shakespeare und Victor Hugo ins Polnische übersetzte. Er regte seinen Sohn an, früh englische und französische Literatur zu lesen. 1878 betrat Conrad erstmals britischen Boden, acht Jahre danach erhielt er die britische Staatsbürgerschaft.

1888 wurde er Kapitän der „Otago“. Seine Seeerlebnisse, insbesondere jene im Kongo, bildeten den Hintergrund seiner Werke. Conrad begann etwa 1890 seine Laufbahn als Schriftsteller. Er wählte die neu erworbene Sprache und veröffentliche seine Bücher unter seinem neu erworbenen Namen. Neue Sprache, neuer Name.

Damit schuf Conrad seine neue Identität und schrieb zahlreiche Romane, die bis heute aktuell sind. Antoine de Saint-Exupéry poetisierte die Luftfahrt. Conrad machte dasselbe mit der Seefahrt.

Conrad und Pessoa

Fernando Pessoa, der am 13.Juni 1888 in Lissabon geboren wurde und in Durban (Südafrika) aufwuchs, verfasste seine Werke hauptsächlich unter drei Heteronymen: Alberto Caeiro, Ricardo Reis, Álvaro de Campos und dem Halbheteronym Bernardo Soares.

Weitere Heteronyme Pessoas waren die Brüder Charles James und Alexander Search. Pessoa erfand auch Biografien für seine Pseudonyme. Bis zu seinem Tod glaubte man an die Echtheit seiner erfundenen Kreaturen. Sie waren derartig verschiedene Charaktere, dass man sie kaum einer gleichen Person zuordnen konnte.

Conrad und auch Pessoa gehören, jeder in seinem Gebiet, zu den Vätern der modernen Literatur. Conrads Novelle „Herz der Finsternis“ (in Englisch 1902, auf Deutsch 1931) hat bis heute Aktualität und wurde mehrmals verfilmt. Pessoas Bücher, „Buch der Unruhe“ oder „Ein anarchistischer Bankier“ sowie auch seine unter anderen Namen veröffentlichen Gedichte, machten ihn zum bedeutendsten Lyriker Portugals und der portugiesischen Sprache sowie zu einem herausragenden Autor des 20. Jahrhunderts.

In Diktaturen, in Kriegs- oder Besatzungszeiten mussten manche Autoren unter Pseudonym schreiben. Die Novelle „Das Schweigen des Meeres“ (frz. „Le silence de la mer“), die schnell in mehrere Sprachen übersetzt und weltberühmt wurde, gehört zu diesen Werken, die nicht unter dem Namen ihres Autors erscheinen konnten. 1942 ließ der in Paris lebende französische Autor Jean Marcel Bruller die Novelle in Genf drucken und unter dem Pseudonym Vercors heimlich in dem von den Deutschen besetzten Paris veröffentlichen. Dieses Buch gilt als Brullers (Vercors) bekanntester Text und als ein Standardwerk der französischen Résistance.

In Zeiten von Diktatoren stehen machtkritische Autoren vor der Wahl: entweder schweigen oder ins Exil gehen. Wenn sie sich für ihr Bleiben und Weiterschreiben entscheiden, dann müssen sie dies unter Pseudonym tun. Sonst müssen sie sterben. Oder im besten Fall wartet eine Gefängniszelle auf sie.

Auch die McCarthy-Ära in den USA der 1950er-Jahre ist so ein Beispiel. Viele Schriftsteller suchten damals einen Ghostwriter für ihre Werke. Der Schriftsteller Philip Roth dokumentierte diese Ära mit seinem Roman „Der Ghostwriter“ (auf Deutsch 1980).

Ära der Fälscher und Gierigen

Keines dieser Beispiele trifft jedoch auf das zu, was seit Wochen in der deutschen Öffentlichkeit und Kulturszene zum Thema geworden ist. Es handelte sich um Demolierung der Literatur, Verfall der Moral und Dekadenz des Denkens überhaupt. Deutschland hat aufgehört, das Land der Denker und Dichter zu sein. Wir befinden uns in der Ära der Fälscher und der Gierigen. Hegemann, Zu Gutenberg und jetzt „Der Sturm“ von Thomas Steinfeld. Gier ist geil.

Ein Gespenst geht um in der Republik – das Gespenst der Gier. Sie verwüstet die Redaktionsräume des Fernsehens und dringt bis an Feuilletonschreibtische vor. Gestern war es noch Frau Heinze vom NDR. Sie verkaufte Drehbücher von sich und ihrem Ehemann unter Pseudonym an ihre Redaktion. Heute ist es TS, ein Megafeuilletonist, der nicht in der Lage war, einen Kriminalroman allein zu schreiben. Er holte sich ärztliche Hilfe, in Person eines befreundeten Hausarztes (oder Psychotherapeuten), um das gemeinschaftlich geschriebene Werk danach unter einem schwedischen Pseudonym zu veröffentlichen. Keinem Deutschen. Keinem Toskanischen. Einem Schwedischen.

Schweden lassen Kasse klingeln

In Deutschland lassen vor allem schwedische Krimis die Kasse klingen. Mal abgesehen von Donna Leon. Und wer weiß das besser als ein kluger Feuilletonist. Aber, wer der Gier sich hingibt, den machen die Götter blind. Selbst Ideale, die man Jahre lang verteidigt hat, bleiben auf der Strecke. Solche Beispiele kennt man von Diktatoren.

Unter dem gleichen Modell veröffentlichte Saddam Hussein seine angeblich von ihm geschriebenen Romane. Das ist alles Selbstbedienung und Verachtung der Öffentlichkeit. Macht und Gier.

Alle reden jetzt von dem Burger TS (bitte: ohne Eliot!) und von seinem mit einer Schaufel erschlagenen Toten, den er von Dachsen auffressen ließ. Was dabei alle vergessen haben, ist, dass der eigentliche Tote in diesem kulturellen Gemetzel der Nobelpreisträger Orhan Pamuk ist.

„Der beste und intelligenteste Kriminalroman, den ich seit langer Zeit gelesen habe“, so wird Pamuk auf dem Buchrücken zitiert. Obwohl jeder weiß, dass Pamuk weder Schwedisch noch Deutsch kann! Wie konnte es dazu kommen, dass ausgerechnet er in dieser Orgie der Verblödung des Lesers und der Verachtung der Literatur aktiv mitmischt?

Eine Gegenleistung – wofür?

Allein Pamuks Familie ist stein(feld)reich. Er braucht also nicht einmal Geld. Weiß er nichts davon? Oder war es eine Gegenleistung für etwas, das sein Freund TS, der Schwedenliebhaber, für ihn getan hat? Eine Gegenleistung wofür?, fragt man sich sogleich.

Mit dem Schälen „seiner“ Zwiebel hat Grass seinen Nobelpreistitel entehrt. Mit dem Superlativ seines Satzes auf dem Buchumschlag begeht Orhan Pamuk Selbstmord! TS oder der Verlag leistet mit dem Abdruck des Zitates dazu Beihilfe.

Allerdings gibt es, wie wir lesen, bald eine zweite Auflage des stürmischen Buches, die unter den Klarnamen eines deutschen Autorenduos erscheinen wird. Mein Vorschlag wäre, für diese Neuauflage auch einen neuen Titel zu wählen. Ganz schwedisch, nehme ich an: Mord an einem Nobelpreisträger. Was mit dem Inhalt des Krimis passiert, bleibt spannend.

Zum Autor


E-Mails an: debatte@diepresse.comNajem Wali(*1956 in Basra) wurde vom Regime Saddam Husseins verfolgt. Nach Ausbruch des Iran-Irak-Kriegs flüchtete er 1980 nach Deutschland. In Hamburg und Madrid studierte er deutsche und spanische Literatur. Er arbeitet als Journalist, schreibt Romane und Erzählungen. Mitglied des PEN. [Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.09.2012)

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