Wie Roma immer weiter an den Rand gedrängt werden

Europa sollte gegenüber der Minderheit eine andere Politik anwenden als eine Strategie der Ignoranz und der Deportation.

Es ist erst ein paar Wochen her, als in acht tschechischen Städten Demonstrationen gegen Sinti und Roma stattfanden. In Ostrava beleidigten Nationalisten Roma und griffen Polizisten mit Steinen und Ziegeln an. Unter den Demonstranten befanden sich auch mehrere Dutzend Mitglieder der polnischen Organisation Nationale Wiedergeburt Polens.

In der Slowakei wurden in mehreren Städten Mauern gebaut, die die Roma-Gemeinschaft vom Rest der Bewohner abtrennen soll.

Anfang August verurteilte ein Gericht in Budapest drei Rechtsextremisten zu lebenslanger und einen vierten zu 13 Jahren Haft. 2008 und 2009 hatten sie eine Angriffsserie auf die Roma-Bevölkerung organisiert, bei der unter anderem ein vierjähriger Junge umgekommen war.

„Der Grund für die Probleme mit der Roma-Bevölkerung, die nirgendwo akzeptiert wird und die unter miserablen Bedingungen lebt, liegt darin, dass es keine europäische Regelung gibt, die dafür sorgt, dass diese Menschen dort bleiben, wo sie hingehören: in Rumänien.“ Das sagte Frankreichs Staatschef François Hollande im Wahlkampf 2012. „Hitler hat vielleicht nicht genügend von ihnen getötet“, erklärte wiederum Gilles Bourdouleix, Bürgermeister einer Kleinstadt in der Loire.

Auf Diskriminierungskurs

Anti-Roma-Rhetorik und Anti-Roma-Politik sind heute parteiübergreifende Phänomene. Sie sind auf der Linken, auf der Rechten, an den politischen Rändern und auch im Zentrum anzutreffen. Nicht nur in Mittelosteuropa, in ganz Europa wird in der Roma-Politik seit Jahrzehnten ein Diskriminierungskurs gefahren.

Seit Beginn ihrer 600-jährigen Anwesenheit auf dem Alten Kontinent sind die Sinti und Roma Objekt der Abneigung. Immer wieder kam es zu organisierten Gewaltakten gegen sie. Auf der Grundlage von Forschungen zur Sprache der Roma ist man heute der Meinung, dass sie aus Indien stammen und etwa um das Jahr 1400 auf den Alten Kontinent kamen.

Seit sie in Europa präsent sind, hat ihre unklare Herkunft den Roma zweifelhaften Ruhm eingebracht. Weil sie nicht die christliche Religion in institutionalisierter Form praktizierten, war Martin Luther der Meinung, dass sie sich nur deshalb taufen ließen, um die notwendigen Papiere zu erhalten. Es wurde behauptet, dass sie sich zum Islam bekennen, oder man hielt sie für türkische Spione.

Die Figur des „Zigeuners“ war zentral in den Degenerierungstheorien und in der Kriminalbiologie an der Schwelle vom 19. ins 20. Jahrhundert. Das bekannteste „Werk“ unter den Studien zur „Zigeunerkriminalität“ ist „L'Uomo delinquente“ („Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung“) von Cesare Lombroso. Die Roma werden dort als „zutiefst kriminelle Rasse“ bezeichnet, die „unter moralischen Gesichtspunkten am tiefsten gefallen und zu jeglicher kulturellen und intellektuellen Entwicklung unfähig ist“.

Dieses Buch hat wie kaum ein anderes zur Verbreitung eines ganzen Begriffefächers von „Zigeunerproblem“ bis zu „Zigeunerkriminalität“ beigetragen – und auch dazu, dass Roma als „geistig unterentwickelt“ und „gesellschaftlich unangepasst“ bezeichnet werden.

Die Rätselhaftigkeit der Roma-Identität erklärt der Romani-Gelehrte Ian Hancock teilweise in seinem Buch „The Pariah Syndrome“. Seiner Meinung nach führte die besondere Form der Ankunft der Roma in Europa dazu, dass sie als zersplittertes Volk gelten.

Die Roma verfügten weder über politische noch militärische Kraft, auch nicht über ein geografisches Territorium, mit dem sie sich hätten identifizieren können. Sie hatten auch keine Geschichte, Religion und Sprache, die für diejenigen, von denen sie nun umgeben waren, erkennbar gewesen wäre. In dieser Situation, so Hancock, nahmen die Roma die Magie zu Hilfe und verbreiteten Schrecken, indem sie Kinder verfluchten und verhexten. Mehr noch: Ihre kulturell bedingten inneren Grenzen haben dazu beigetragen, die anderen auf Distanz zu halten, was die absolute Unwissenheit über sie in der Gesellschaft, in der sie leben, förderte.

Keine homogene Gruppe

Doch die weit verbreitete Vorstellung vom nomadischen Lebensstil der Roma ist eine grobe Vereinfachung. In Wirklichkeit wird dieser Lebensstil nur von wenigen Prozent der Population gepflegt.

Normalerweise werden die Roma für eine homogene Gruppe gehalten. Tatsächlich sind sie eine äußert vielfältige Gruppe. Das zeigen die verschiedenen Berufe, die sie ausführen, die verschiedenen Sprachen, die sie sprechen, ihre unterschiedlichen Lebensstile und ihre unterschiedliche geografische Herkunft. Es gibt Roma, die sowohl ökonomisch integriert sind als auch kulturell; es gibt auch solche, die sich nur ökonomisch integriert haben. Andere vegetieren am Rande der Gesellschaft – im wahrsten Sinne des Wortes.

Erschreckende Vereinfachung

Forscher räumen ein, dass die Roma oft selbst zu ihrer Marginalisierung beitragen: Ärmliche Lebensbedingungen müssen nicht zwangsläufig zu Kriminalität führen. Die Bildungsmöglichkeiten könnten besser genutzt werden. Mitglieder von Randgruppen können selbst unter ungünstigen Bedingungen erfolgreich sein.

Bei diesen Feststellungen darf man es aber nicht belassen – aus zwei Gründen: Erstens, weil viele Elemente ihrer Handlungsweise tief mit ihrer jahrhundertelangen Diskriminierung in Europa verflochten sind. Faire Gesellschaftspolitik sollte diejenigen einbeziehen, denen jahrelang Unrecht angetan wurde. Zweitens wird die Identität der gesamten Roma-Minderheit ungerechterweise auf Slums reduziert. Das ist eine erschreckende Vereinfachung, ähnlich wie die Reduktion der Identität der europäischen Juden der Vorkriegszeit auf das Schtetl.

Welche Politik wäre statt der derzeit in einer Reihe europäischer Länder angewandten Strategie der Ignoranz oder Deportation in andere Staaten (etwa nach Rumänien) gegenüber den Roma vorstellbar? Zwei Beispiele:

Es wird viel davon gesprochen, dass die Roma ihre Kinder nicht in die Schule schicken wollen – und wenn sie es tun, die Kinder sehr schlecht lernen. Es wird aber kaum darüber gesprochen, dass diese Kinder nicht die Möglichkeit haben, in ihrer Muttersprache zu lernen. Weil sie aber beispielsweise Slowakisch schlecht sprechen, werden sie aufgrund von Beamtenentscheidungen in Sonderschulen untergebracht.

Nur schwaches Lobbying

Zum Zweiten: Angesichts der Tatsache, dass es keinen „Zigeunerstaat“ gibt, haben die Roma nur wenige Möglichkeiten, Lobbying für ihre Rechte zu betreiben, wie es einer Minderheit zustehen würde. Die verschärfte Anti-Roma-Stimmung drängte diese immer weiter an den Rand der Gesellschaft.

Es wäre an der Zeit, kritisch nicht nur über das aggressive Verhalten nationalistischer Gruppen gegenüber den Roma nachzudenken, sondern auch über die ähnlich aggressive Rhetorik von Politikern des politischen Zentrums.

Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Jasińska.

DIE AUTORIN

E-Mails an: debatte@diepresse.com



Karolina Wigura
istIdeenhistorikerin und Soziologin; Redaktionsmitglied des intellektuellen polnischen elektronischen Wochenmagazins „Kultura Liberalna“ und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Universität Warschau. Von September 2012 bis Juni 2013 war sie im Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien tätig. [ Maciej Spychał ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.10.2013)

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