Eine Geschlechterkluft?

Einkommensunterschied Mann/Frau: Musterschüler sind keine Vorbilder - und die Nachzügler sind oft besser als ihr Ruf.

Männer verdienen in allen Ländern mehr als Frauen. Mit einem Einkommensunterschied von 23,4 Prozent liegt Österreich (wie auch Deutschland, die Schweiz, Finnland und die Niederlande) nach Eurostat deutlich über dem EU-Schnitt. Die geringsten Einkommensunterschiede weisen aber nicht die egalitären skandinavischen Länder auf, sondern Italien, Malta, Polen und Slowenien.

Nach einer kaum zitierten OECD-Statistik liegt Österreich mit einer Differenz von 18,6 Prozent besser. Denn die OECD macht sich im Gegensatz zu Eurostat auch die Mühe, auszurechnen, wie viel von diesem Unterschied mit objektiven Faktoren erklärt werden kann. Branchen- und Berufswahl, Arbeitszeit, Überstunden, Alter, Berufserfahrung, Ausbildung, Tätigkeit, Nachtarbeit, Erwerbsunterbrechungen, frühes Pensionsantrittsalter wirken sich ja auf das Einkommen aus.

Laut OECD-Rechnung ist bei den „Nachzüglern“ Österreich, Niederlande und Deutschland der größte Teil des Einkommensunterschieds mit den erwähnten Faktoren objektiv erklärbar. So führt die OECD einen Großteil des heimischen Einkommensunterschieds von 18,6 Prozent, nämlich 13,2 Prozent, auf diese Faktoren zurück. Ein objektiver Faktor, der in Österreich wirkt, ist etwa das frühe Pensionsantrittsalter, durch das Frauen ihre einkommensbesten Jahre verlieren.

Verbleibt für Österreich ein objektiv nicht erklärbarer Rest von 5,4Prozent (allenfalls auf diesen Wert sollte sich die Empörung beziehen). Dieser Wert ist im internationalen Vergleich ziemlich niedrig: In 19 OECD-Ländern ist der objektiv nicht erklärbare Einkommensunterschied zwischen Mann und Frau größer als in Österreich, in neun Ländern niedriger.

Blick hinter die Zahlenfassade

Umgekehrt liegen die Dinge bei den angeblichen Musterschülern: Italien verzeichnet einen Einkommensunterschied von nur 10,6 Prozent, von dem 6,5 Prozent nicht durch objektive Faktoren erklärbar sind. Ganz ähnlich in Polen und Slowenien. Was unterscheidet sie von Österreich und Co.?

In südlichen und östlichen EU-Ländern sind viele weniger qualifizierte Frauen und Mütter vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen. In Italien sind 47,1 Prozent der Frauen berufstätig, in Österreich 67,3 Prozent. Wenn Mütter aber nicht arbeiten gehen, können sich auch einkommensdämpfende Faktoren wie Teilzeit, Babypausen, Branchenwahl weniger oder gar nicht auf die Erwerbseinkommen auswirken. Mit anderen Worten: Wenn tendenziell nur qualifizierte Frauen ohne Kinder in die Einkommensstatistik eingehen, hebt das den statistischen Einkommensschnitt.

Es ist wohl ein Erfolg, dass Österreich bei der Frauenerwerbsquote im Spitzenfeld liegt. Aber statistisch ist es ein Misserfolg: Frauen, die für den Arbeitsmarkt gewonnen werden, arbeiten sehr oft in Teilzeit, in Niedriglohnbranchen und mit Unterbrechungen. Jedes zusätzliche Einkommen verbessert zwar das Haushaltseinkommen, verschlechtert aber statistisch den Einkommensschnitt.

Die Zahlenfassade zum Einkommensunterschied eignet sich gut für empörte Schlagzeilen. Ein Blick hinter die Zahlen zeigt aber: Musterschüler sind keine Vorbilder, Nachzügler besser als ihr Ruf.

Rolf Gleißner (*1972) ist Jurist und stellvertretender Leiter der Abteilung für Sozialpolitik und Gesundheit in der Wirtschaftskammer Österreich.

debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.03.2014)

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