Pflege: Den Kundenwunsch in den Mittelpunkt stellen

Der willkürliche Ausschluss von Pflegetätigkeiten im neu geschaffenen Gesetz hält einem Praxistest nicht stand und ist auch logisch widersprüchlich.

Viel, vielleicht schon zu viel ist über die 24-Stunden-Betreuung gesagt und geschrieben worden. Die Fakten: In geschätzten 20.000 österreichischen Haushalten sind ausländische Pflegekräfte beschäftigt und erfüllen den Wunsch von pflegebedürftigen Menschen und ihren Familien nach einer Rund-um-die-Uhr-Präsenz bzw. Betreuung in den eigenen vier Wänden.

Auf diesem „Markt“ werden jährlich rund 350 Millionen Euro umgesetzt. Damit erreicht die gerade erst legalisierte 24-Stunden-Betreuung eine ähnliche Größenordnung wie die „offiziellen“ und öffentlich geförderten Pflege- und Betreuungsdienstleistungen im Rahmen der sogenannten „Mobilen Dienste“ (Hauskrankenpflege, Heimhilfe, Pflegehilfe, mobile Ergo- und Physiotherapie etc.), welche von zirka 70.000 Österreicherinnen in Anspruch genommen werden.

Die Politik hat sich – nach jahrelangem Wegschauen – im Jahr 2007 zu einer gesetzlichen Regelung der 24-Stunden-Betreuung durchgerungen. Das war wichtig und richtig, wenngleich das dafür geschaffene „Hausbetreuungsgesetz“ einige gravierende Geburtsfehler aufwies. Diese werden gerade nach und nach unter Einwechslung politischen Kleingelds repariert.

Neuordnung der Pflegelandschaft

Auf einen dieser Fehler möchte ich besonders eingehen, weil er meines Erachtens Angelpunkt für ein Umdenken und eine Neuordnung der Pflegelandschaft in Österreich sein könnte:

Das Hausbetreuungsgesetz definiert einzelne erlaubte Tätigkeiten im Rahmen der 24-Stunden-Betreuung – und verbietet indirekt jede pflegerische Tätigkeit, wie Körperpflege, Inkontinenzpflege, Verabreichen von Mahlzeiten, Einschachteln von Medikamenten etc.

Das ist praxisfern, weil die große Mehrheit jener Personen, die eine 24-Stunden-Betreuung beanspruchen, nicht eine Gesellschaftsdame, sondern Unterstützung bei den Aktivitäten des täglichen Lebens brauchen. Im Regelfall werden also bei ein und demselben Patienten Betreuungs- und Pflegetätigkeiten anfallen und auch von der jeweiligen Betreuungskraft durchgeführt werden.

Der willkürliche Ausschluss von Pflegetätigkeiten im neu geschaffenen Gesetz hält damit einem Praxistest nicht stand und ist auch logisch widersprüchlich.

Der Logik einer ganzheitlichen Betreuung folgt ja indirekt auch der Gesetzgeber, da er als Voraussetzung für eine öffentliche Förderung – im novellierten Pflegegeldgesetz – das Vorliegen der Pflegestufe 3 definiert und damit einen Hilfe- und Pflegebedarf von 120 bis 160 Stunden pro Monat.

Natürlich stehen konkrete berufsrechtliche Vorschriften Pate bei dieser Trennung zwischen pflegerischen und nicht-pflegerischen Aktivitäten: Diverse Gesetze (z.B. das Gesundheits- und Krankenpflegegesetz) definieren Ausbildungs- und Tätigkeitsrahmen für diplomierte Pflegekräfte, PflegehelferInnen, HeimhelferInnen und weitere Sozialbetreuungsberufe.

Qualitätseinbußen befürchtet

Bei einem Aufweichen der bisher klar abgegrenzten Tätigkeitsbereiche im Rahmen der 24-Stunden-Betreuung befürchten die Berufsgruppen – vielleicht zurecht – Qualitätseinbußen, falls zukünftig großteils ungelernte ausländische Betreuungskräfte Tätigkeiten ausüben, die in Österreich eine zwei- bis dreijährige theoretische und praktische Ausbildung voraussetzen.

Und genau hier sehe ich die große Chance für einen Paradigmenwechsel in unserem Pflegesystem. Stellen wir ganz radikal den Kundenwunsch in den Mittelpunkt unserer Überlegungen. Die ganz große Mehrheit der pflegebedürftigen Menschen hat den Wunsch, in gewohnter häuslicher Umgebung, eingebettet in familiäre und familiennahe Netzwerke, betreut zu werden. Und diese Netze bewältigen unter zunehmend schwierigeren Rahmenbedingungen und unter großen persönlichen Opfern in knapp 70 Prozent aller Pflegefälle die Betreuung ihrer Angehörigen ohne fremde Unterstützung.

Aus Umfragen wissen wir, dass Pflegebedürftige vor allem drei Dinge schätzen: Freundlichkeit, Verlässlichkeit und das Eingehen auf persönliche Wünsche, Ängste und Bedürfnisse. Die fachliche Qualifikation wird als selbstverständlich vorausgesetzt und gilt daher nicht als oberste Priorität.

Daher schlage ich folgende Eckpfeiler eines integrierten Maßnahmenpakets vor, bei dem die 24-Stunden-Betreuung nicht Teil des Problems, sondern wesentlicher Teil der Lösung ist:
1)
Massiver Ausbau der 24-Stunden-Betreuung: durch Erweiterung des Tätigkeitskataloges der ausländischen BetreuerInnen auf die sogenannte „Grundpflege“; durch öffentliche Förderungen der 24-Stunden-Betreuung bereits ab Pflegestufe 2; durch deutliches Anheben der derzeitigen Vermögensgrenzen, durch Förderung von Schulungsangeboten für die Betreuerinnen in den jeweiligen Herkunftsländern.
2)Case Management und Qualitätssicherung durch mobile Dienste begleiten alle öffentlich geförderten 24-Stunden-Betreuungsverhältnisse. Dadurch ergeben sich neue Aufgaben für die etablierten Trägerorganisationen und deren hoch qualifiziertes Fachpersonal.
3)Verdoppelung der Kapazität von Tagesbetreuungseinrichtungen in Österreich bis 2010, insbesonders für Demenzerkrankte.
4)Deutliches Anhaben des Personalschlüssels in den stationären Einrichtungen der Langzeitpflege zur besseren Versorgung (dementer) Patienten und zur spürbaren Entlastung der dort tätigen Pflegekräfte.
5)Verstärkte Einbindung von älteren Freiwilligen durch geeignete Anreizsysteme im Steuer- und Sozialversicherungsrecht.

Geschätzte Kosten dieses Investitionsprogramms: 400 bis 500 Millionen Euro. Das bedeutet ein Plus von 15 Prozent zum derzeitigen österreichischen Jahresbudget für die Pflege von rund drei Milliarden Euro (inklusive 1,8 Milliarden Pflegegeld).

Das gute Gewissen einer ganzen Nation

Zu erwartendes Ergebnis: Zufriedene pflegebedürftige Menschen und deutlich entlastete pflegende Angehörige durch ein differenziertes, reichhaltigeres und leistbares Angebot für Pflegebedürftige, besser integrierte ausländische Pflegekräfte, sinnvoll beschäftigte ältere Freiwillige, zufriedene Pflegende – und das gute Gewissen einer ganzen Nation, dass wir mit unseren älteren und pflegebedürftigen Mitmenschen verantwortungsvoll umgehen.

Oder wie es das Rote Kreuz so treffend formuliert: „Aus Liebe zum Menschen.“

Dr. Werner Kerschbaum ist stv. Generalsekretär des Österr. Roten Kreuzes; Studium an der WU Wien, berufliche Erfahrung in verschiedenen österreichischen Unternehmen.


meinung@diepresse.com("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.02.2008)

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