Ist Keynes wirklich verstaubt?

Wenn der Staat je Grund gehabt hat, einer möglichen Depression vorzubeugen, dann heute.

Franz Schellhorn gibt dem allgemeinen Unbehagen mit den staatlichen Milliardenpaketen zur Rettung vor der Rezession mit starken Worten Ausdruck („Die Presse“, 20. Dez.). Er beschuldigt das „verstaubte Lehrbuch des Herrn Keynes“, die Regierungen – mit den Worten des deutschen Finanzministers Steinbrück – veranlasst zu haben, en gros „Geld zu verbrennen“, obwohl das noch nie vor einem Abschwung bewahrt habe. Wogegen Steinbrück und Schellhorn argumentieren, kann wirklich nicht Keynes persönlich oder sein Lehrbuch (die „General Theory“, 1936) meinen, sondern nur das, was gewisse politische Auffassungen gerne als diesem entnommen ausgeben.

Tatsächlich haben sich auf Keynes berufende Rezepturen („deficit spending“) oft gänzlich versagt oder gar bleibenden Schaden angerichtet. Zudem stießen Ökonomen darauf, dass konsequente Konsolidierung des Staatshaushalts (also Sparen auch bei Konjunkturschwäche) überraschende „nicht-keynesianische“ Effekte, nämlich Optimismus und Belebung, bringen können.

Seit Reagan und Thatcher setzte sich nicht nur bei Herrn Steinbrück fest, dass „keynesianisch“ orientierte Budgetpolitik im Konjunkturabschwung keine Belebung, dagegen im folgenden Aufschwung unnötige Überhitzung, überflüssigen Staatsaufwand und Schulden brächten. Besonders die auf hausväterliche Rechtschaffenheit bedachte deutsche Budgetpolitik legte sich über Parteigrenzen hinweg darauf fest, dass von „Keynes“ nichts Gutes zu erwarten sei und dass er dem Verstauben anheimzufallen hätte.

Eine „keynesianische“ Situation, in der die Lockerung der Geldpolitik keine stimulierende Wirkung mehr hat und sich Haushalte wie Unternehmen und vor allem Banken vor dem Risiko der Verschuldung zurückziehen, schien – außer in Japan zu Beginn der 1990er-Jahre – auch kaum aktuell.

Antizyklische hochkomplexe Fiskalpolitik

Wenn man „seinen Keynes gründlich liest“ und die in den letzten Jahrzehnten gemachten Erfahrungen mit der Budgetpolitik ebenso gründlich studiert, findet man rasch, dass die Sache so einfach nicht ist. Nicht jede Situation einer Volkswirtschaft verspricht Erfolg antizyklischer Staatseingriffe. Manche Umstände sind dafür sogar ausgesprochen ungünstig. Das bedeutet aber noch nicht, dass die oben beschriebene „keynesianische“ Situation nicht doch auftreten kann. Und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, dass derzeit eine solche Situation vorliegt, in der es fatal wäre, wenn die Staaten sich nicht zu expansiven Maßnahmen entschlössen.

Dass viele Regierungen derzeit „ein schuldenfinanziertes Konjunkturpaket nach dem anderen auf den Weg schicken“, die Prognosen sich dennoch „stündlich“ verschlechtern, erklärt sich ganz leicht: Die expansive Wirkung braucht Zeit; soll sie aber nicht zu spät kommen und einen Teil des konjunkturellen Absturzes abfangen, dann ist es gut, wenn sie im Gang ist, bevor die Rezession voll einsetzt. Das beweist nicht, dass die Maßnahmen wirkungslos sind. Die Gegner antizyklischer Budgetpolitik argumentieren – meist zu Recht – genau umgekehrt: dass die Maßnahmen zu spät kämen, wenn die Wirtschaft die Krise schon von selbst überwunden hat.

Nein, antizyklische Fiskalpolitik ist hochkomplex. Sie einzusetzen erfordert mehr als die Berufung auf Trivialisierungen von Keynes. Ob das, was Keynes der Politik geraten hätte, zu positiven oder negativen Ergebnissen führt, hängt in der konkreten Situation von vielerlei Umständen ab: ob ein Staat allein oder die ganze Welt betroffen ist, ob er Mitglied einer Wirtschaftsunion ist oder außerhalb, ob er schon hoch verschuldet ist oder sich etwas leisten kann, ob die Bevölkerung zum Sparen neigt, ob der Staat Steuern senkt, ob er zudem Ausgaben steigert, ob er in Bahnhöfe oder in Forschung und Schulen investiert, ob er gleich „klotzt“ oder zögerlich „kleckert“, ob die Regierung stark genug ist, im Aufschwung die Maßnahmen zurückzunehmen, in welcher Weise Budget und Geldpolitik bzw. Finanzmärkte zusammenwirken, ob das Bankensystem in seinen Grundfesten erschüttert ist usw.; nicht zuletzt davon, welche Stimmungen und Erwartungen die Bevölkerung hegt.

Die recht komplexen Aussagen seriöser Ökonomen veranlassen Politiker, sich auf intuitiv einsichtige und ideologisch passende Trivialitäten zu verlegen. Bei uns wurde in den letzten Jahren von Regierungsmitgliedern mehrfach, in der Regel nicht durch eben sorgfältige Analyse gestützt, verkündet, dass man keine Nachfragepolitik mehr brauche, sondern nur noch Angebotspolitik.

Unverantwortliche Gier, Pflichtverletzung

Das hängt mit tief sitzenden, wirklich „verstaubten“ ideologischen Vorurteilen gegen „den Staat“ an sich zusammen. Lieber Herr Schellhorn (mit Herrn Steinbrück werden sich seine SPD-Genossen auseinandersetzen): Können wir uns – angesichts der gegenwärtigen Krise – darauf einigen, dass diese nur durch unverantwortliche (teils kriminelle) Gier oder Lässigkeit in Teilen der Privatwirtschaft und durch Pflichtverletzung und Bedenkenlosigkeit staatlicher Organe, verschärft durch das fatale Zusammenwirken des Fehlverhaltens beider Bereiche, zustande kommen konnte? Wir müssen doch nicht die ärgerliche Abwertung „des Staates“ als Leviathan gegen die ebenso ärgerliche Überhöhung unternehmerischer Autonomie aufrechnen – oder umgekehrt –, und diese fruchtlose Debatte noch ins 21. Jahrhundert übersiedeln, wo wir gerade vor Augen geführt bekommen, dass beide Institutionen mit gravierenden, eben menschlichen, Fehlern behaftet sind.

Wenn aber je der Staat und die Staatengemeinschaft Grund gehabt haben, einer gut möglichen Depression vorzubeugen, dann heute. Wir müssen das gar nicht Keynes in die Schuhe schieben. Unabhängig davon verdienen dessen Werk und seine faszinierende, schillernde Persönlichkeit den Ausdruck „verstaubt“ wahrlich nicht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.12.2008)

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