Die neue Völkerwanderung

Langfristig muss das Wohlstandsgefälle in der Welt kleiner werden, kurzfristig bedarf es sinnvoller Regelungen.

Das aktuelle Problem des Asylantenstroms in die EU, derzeit täglich in den Medien, ist Teil einer „neuen Völkerwanderung“, die nicht nur das parteipolitische Gleichgewicht bedroht, sondern in einen Umbruch der globalen Ordnung explodieren könnte. Um dieses historische Geschehen mit einem weiteren Blick zu analysieren, könnten einige Hypothesen der modernen Wissenschaft dienlich sein. Sie seien in aller Kürze skizziert – wenn man will, auch nur als Glaubenssätze eines Sozialwissenschafters.

Die Ortsveränderung als Suche nach Lebenschancen und Heimat gehört zu den biologischen Urtrieben des Menschen. So besiedelte er, zu Fuß, allmählich die Erde, in zehntausenden Jahren. Die Anpassung an Klima und Lebensraum verlief zum Teil noch biologisch, mit Haut und Haar. Doch schon wirkte die kulturelle Evolution und schuf vorteilhafte Entwicklungen in Verhalten und Technik, die den Inuit die Besiedlung der Arktis ermöglichte, den sogenannten Buschmännern das Überleben in der Trockenwüste. Grenzkämpfe und das Überleben der besser Angepassten gab es da innerhalb der Kulturen, aber schon mit Befriedungsritualen – zwischen den weiter voneinander entfernten „Stämmen“ und „Rassen“ kaum. Doch gibt es die Theorie, dass der „moderne“ Homo Sapiens die Neandertaler bis zur Vernichtung verdrängt hat. Erst mit dem Aufkommen der „Hochkulturen“ mit den Verkehrsmitteln der Reit- und Lasttiere sowie den Segelschiffen kam es zu Reisen und Migration, zur gezielten Ortsveränderung, vorübergehend und auf Dauer.

Flucht und Chance zugleich

Migration ist Flucht und Chance zugleich. Auch Flüchtlinge vor Gewalt und Verfolgung streben reiche Länder mit hohem Lebensstandard und wachsender Wirtschaft an. Und tüchtige und strebsame Auswanderer suchen Sicherheit und Entfaltungsmöglichkeiten, um dem Elend und den Bedrohungen in ihrer Heimat zu entkommen. Die Abwanderung unternehmungslustiger Leistungsfreudiger benachteiligt aber die jeweils schwächeren Gesellschaften. Auch „eiserne Vorhänge“ und „dichte Grenzen“ helfen auf die Dauer nicht gegen den Sog des Wohlstandsgefälles.

Das war so, als in der Antike die Völkerwanderung das wohlhabende Römische Reich überschwemmte, als im Mittelalter die Klöster und Burgen zu Ballungszentren der christlichen Stadtkultur wurden, als Wagemutige und Verbannte aus dem von Seuchen und Kriegen verwüsteten Europa die Naturparadiese des dünn bevölkerten Amerika besiedelten. Und diese Dynamik der Migration gilt auch heute.

Nach diesen Indikatoren der Anziehungskraft auf Migranten gehört die EU heute zu den glücklichsten und reichsten Gebieten der Erde – was auch durch viele Statistiken der Wirtschafts- und Sozialforschung bestätigt wird. Im Wohlstandswettlauf mit Amerika und Ostasien hat Europa in den letzten siebzig Jahren, nach zwei Weltkriegen, die Nase wieder vorn. So gesehen kann auch die derzeitige Flüchtlingswelle aus Afrika und dem Orient nicht nur als Episode gesehen werden. Sie ist eine Folge des Erfolgs der Vereinigung Europas.

Jeder positiven Wirkung der Zuwanderung steht aber auch ein Problem gegenüber.

Kulturelle Diversität

Tüchtige und anspruchslose Fremdarbeiter bestärken das Wirtschaftswachstum und bringen die Dynamik kultureller Diversität – drängen aber eventuell schwächere Heimische in die Arbeitslosigkeit. Marginale Randgruppen der Heimischen werden dann größer und bedrohlicher, insbesondere wenn dazu noch psychisch und sozial geschädigte Flüchtlinge kommen. Das kann wiederum die Dienstleistungswirtschaft in den Bereichen Betreuung und Sicherheit begünstigen, sie aber auch überfordern. Jede starke Migration fordert die Balance zwischen zu wenig und zu viel heraus, zwischen Verelendung und Wachstumsschäden, ökonomisch, ökologisch, sozial.

Doch daraus entspringt wiederum erst das Neue der Evolution, der Fortschritt der Zivilisation. Denn nur in dem ständigen Versuchen und Erproben sammelt sich Erfahrung in der fortlaufenden Problemlösung, wird die Gesellschaft zu einem „learning system“. Das Ideal der Lerngesellschaft – der „learning society“ – weist dazu den Weg. Und neben Demokratie und Marktwirtschaft gehört die kulturelle Evolution zu diesem Rezept.

Was folgt daraus für die aktuelle gesellschaftliche Praxis – und insbesondere für das akute Problem der massiven Zuwanderung von Asylsuchenden in die EU und nach Österreich?

Langfristig muss das Wohlstandsgefälle in der Welt verringert werden, um die Völkerwanderung auf ein sinnvolles Tempo zu bremsen. Die Einbeziehung von Notstandsgebieten in die weltweite marktwirtschaftliche Produktion ist mit den modernen Techniken immer besser möglich.

Zudem ist das Bevölkerungswachstum in den Notgebieten und Krisenzonen der Welt zu bremsen. In den reichsten Gebieten und den Zonen des Wirtschaftswachstums – selbst im islamischen Raum – wirkt da die weibliche Emanzipation mit Techniken zur Geburtenverhütung schon weltweit in Richtung geringere Kinderzahlen. Die Einbeziehung der Zugewanderten in eine moderne Reproduktionskultur, die am stärksten durch höhere weibliche Bildung und weibliche Berufseinbindung gefördert wird, bestärkt diese Entwicklung, schließlich auch in den Herkunftsländern.

Flucht vor Not und Gewalt und Chancensuche in den Erfolgsgesellschaften sollen Regulator bleiben – Mobilität als soziale Optimierung wie Markt und Wahlen. Aber möglichst sinnvoll gesteuert, weltweit und bis zu Gemeinde und Stadtviertel. Dazu wäre eine viel feinere und wissenschaftlich fundierte Einstufung der Migranten notwendig: nach Gesundheit und Hilfsbedarf, nach Persönlichkeitsstärke und psychischen Schäden, nach Bildung und sozialer Einbindung, nach kulturellen und menschlichen Bedürfnissen. Qualifikation für eine solche Individualdiagnose wäre in modernen Zuwanderungsländern wohl genug vorhanden. Doch stellt sich die Frage der Finanzierung.

Sog der Zuwanderung

Noch viel weniger gelöst ist die Realisierung der sich daraus ergebenden Empfehlungen. Die Basisformel dafür ist klar: Betreuung für die Schwachen und Geschädigten, Bildung für die Lernfähigen, Selbstentfaltung in Tätigkeit und Arbeit für alle – und überall Hilfe zur Integration in der Multikulturalität. Doch für wie viele Zugewanderte können wir uns das leisten? Und wenn ein reiches Land, wie Österreich, nun heute schon Flüchtlingen solche volle Teilnahme am Wohlfahrtsstaat bieten könnte, würde das den Sog der Zuwanderung, mitten im Strom der neuen Völkerwanderung, nicht noch anschwellen lassen?

Offensichtlich sind hier Regelungen und Ordnungen der Kooperation und der Verteilung nötig, auf jeder Ebene, international und regional, in Abwägung der Interessen. Nicht zufällig ist die neue Völkerwanderung in den Brennpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR


Ernst Gehmacher
(*1926 in Salzburg)

studierte Landwirtschaft,

Soziologie und Psychologie in Wien; arbeitete danach als Redakteur der „Arbeiterzeitung“. Ab 1965 im IFES − Institut für Empirische Sozialforschung tätig, 1976 bis 1985 dessen Geschäftsführer. 1996 Gründung des Büros für die Organisation angewandter Sozialforschung (Boas); seit 1970 Lektor an der TU Wien.. [ H. Hofmeister ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.08.2015)

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