Gedanken zum religiösen Aufwachsen von Kindern

Das Weihnachtsfest gibt Anlass zur Frage nach dem Kindsein heute und nach der Bedeutung von Religion für Kinder.

Strahlende Kinderaugen, die gebannt auf brennende Kerzen auf dem Adventkranz oder Christbaum schauen, gehören zu den berührendsten Bildern im Zusammenhang mit dem Weihnachtsfest. Dieses hat sich in unseren Breiten zu jenem Fest entwickelt, das nach wie vor gern in Familien gefeiert wird – und dies oft unabhängig von der jeweiligen religiösen Gebundenheit.

Selbst Angehörige anderer Religionen können sich ihm schon aufgrund seiner kommerzialisierten Form kaum entziehen und integrieren Advent und Weihnachten oftmals als „kulturellen Brauch“ in ihr Familienleben. Dieses Fest, das die Geburt eines Kindes in den Mittelpunkt stellt, gibt Anlass zur Frage nach dem Kindsein heute und nach der Bedeutung von Religion für Kinder.

Wenngleich manche Aussagen über Religionsgrenzen hinweg Gültigkeit haben dürften, sind die folgenden Überlegungen aus christlicher Perspektive formuliert. Die Lebensbedingungen für Kinder sind zumindest im (mittel)europäischen Raum so gut, wie sie es wahrscheinlich noch nie in der Geschichte vorher waren. Charakteristisch dafür sind ein Aufwachsen in relativer Sicherheit ohne Krieg bei umfassender sozialer und gesundheitlicher Versorgung.

Säkulare Überforderung

Diese formalen Möglichkeiten dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die faktischen Möglichkeiten für einzelne Kinder sehr unterschiedlich aussehen. Nach wie vor leben (zu) viele Kinder in materieller und sozialer Armut.

Kennzeichnend für Kindsein heute ist ein stark pädagogisiertes Aufwachsen. Kinder in Entscheidungen mit einzubeziehen, sie in ihren Autonomiebestrebungen zu unterstützen und in der Erkundung der Welt ermunternd zu begleiten sind dabei starke normative Vorgaben. Kinder werden dabei nicht mehr nur als Adressatinnen von Bildung, sondern als deren Subjekte angesehen, die in ihren Bedürfnissen und Fragen ernst zu nehmen sind.

Zunehmende Ratlosigkeit und Unsicherheit prägen jedoch den Umgang mit religiösen Fragen und Erfahrungen. In einer Welt, in der schnelle Antworten gefragt sind und empirisch nachprüfbare Erklärungen starke Bedeutung erlangt haben, wirken religiöse Fragen schnell fremd, ja sogar befremdend. Und dennoch, trotz aller Aufgeklärtheit gibt es auch in unseren Gesellschaften kein Aufwachsen fernab von Religion und Religionen. Weihnachten ist dafür ein gutes Beispiel.

Zu dieser Zeit werden Kinder auch außerhalb von Religionsunterricht und Kirche mit mehr oder weniger religiös aufgeladenen Symbolzeichen, Geschichten und Liedern konfrontiert. Unweigerlich stellt sich dabei auch die Frage nach deren Sinn und Bedeutung. Trotz säkularer Überformung sind die in den vorhandenen Bräuchen, Ritualen und Erzählungen ursprünglich angelegten religiösen Sinndeutungen nicht vollkommen verloren gegangen. Oft sind es gerade die Kinderfragen, die zur Suche nach der ursprünglichen Bedeutung führen.

Religiöse Fragen nehmen das Leben unter einer anderen Perspektive wahr als naturwissenschaftlich oder historisch orientierte. Sie zielen auf Sinnfindung ab.

Dies gilt es im Umgang mit den Fragen der Kinder besonders zu beachten. Mit Paul Ricoeur lässt sich zudem darauf verweisen, dass Kindern im Verstehen von Welt ihre „erste Naivität“ zuzugestehen ist. Ihre Fantasien, ihr kindliches Verstehen von Gott, von religiösen Geschichten und Figuren haben eine wertvolle Berechtigung, die es nicht vorschnell zu entmystifizieren gilt. Dies lässt sich natürlich nicht auf den religiösen Bereich beschränken, sondern betrifft die kindliche Annäherung an Welt und Selbst in allumfassender Weise.

Fragen nach Anfang und Ende

In umgekehrter Weise ist es nicht als Erziehungsauftrag zu sehen, religiöse Figuren und Geschichten in besonderer Weise auf Kinder hin zu mystifizieren und sie mit legendenhaften Ausschmückungen zu überfrachten. Noch dazu, wenn damit moralisch konnotierte Erziehungsziele einhergehen, wie diese an der Figur von Nikolaus und Christkind in Geschichte und Gegenwart gut ablesbar sind.

Kinder in ihrer Autonomie ernst nehmen heißt, sie vor allem auch in religiösen Fragen nicht zu entmündigen oder zu manipulieren. Sie haben nicht nur ein Recht auf ihre religiösen Fragen, sondern auch das Recht darauf, von den Erwachsenen dabei begleitet zu werden, ohne dass diese ihnen ihre „erste Naivität“ nehmen und ohne dass sie durch Religion moralisierend vereinnahmt, abhängig gemacht oder ausgebeutet werden.

Sie in ihren Fragen zu begleiten beansprucht nicht, auf alles und jedes in religiösen Dingen eine Antwort zur Verfügung haben zu müssen. In Sachen Religion könnte dies sogar gefährlich sein, weil dadurch der Eindruck entsteht, dass die Fragen nach dem Anfang und dem Ende der Welt allein über Wissen erledigt werden können.

Gemeinsamer Suchprozess

Vielmehr geht es darum, für die Fragen der Kinder ansprechbar zu sein und sich mit ihnen auf die Suche nach Antworten zu begeben. Dass diese gemeinsame Suche auch in Ratlosigkeit enden kann, wenn es um existenzielle Fragen des Woher und Wohin geht, muss dabei nicht ausgespart werden.

Das Charakteristikum religiöser Erziehung ist weniger in der Erklärung historisch richtiger Sachverhalte zu sehen – wenngleich diese nicht missachtet werden sollten –, sondern in diesem gemeinsamen Suchprozess, in dem Kinder erleben können, dass religiöse Fragen ein Ringen nach existenziell tragfähigen Antworten zur Folge haben. Das anfänglich angesprochene Staunen, die fantasievollen Fragen und Antwortversuche der Kinder können auch Erwachsene derart berühren, dass sie sich diesen Fragen zu stellen trauen.

Besinnliche Minuten unter dem Christbaum, der Duft von Weihrauch, Kerzen, das Erleben von Gemeinschaft beim Krippenspiel oder in der Christmette bieten in diesen Tagen eine gute Gelegenheit dazu, Fragen nach dem Unerklärlichen dieser Welt zuzulassen und die Entdeckungsreise nach dem Geheimnisvollen gemeinsam mit den Kindern anzutreten.
Dass Religion dabei nicht in die romantisierende Wohlfühlzone abgleitet, dazu können uns die entlarvenden Zwischenfragen von Kindern den Weg weisen.

Die Botschaft vom Frieden

So ist etwa die Frage „Warum erhält das Nachbarkind vom Christkind nicht so viele Geschenke zu Weihnachten wie ich?“ eine Generalattacke auf unser seit dem Biedermeier gut gepflegtes Bild vom Christkind. Diese „naive“ Kinderfrage deckt eine vorschnelle Parallelisierung vom Christkind mit dem Jesuskind als unhaltbar auf.

Mit dem Kind in der Krippe, das mit Josef und Maria nach der Geburt aufgrund politischer Verfolgung nach Ägypten fliehen musste, lässt sich die Frage nach der ungerechten Geschenkeverteilung nicht beantworten. „Naive“ Kinderfragen geben uns die Chance, Religion nicht für unsere Bedürfnisse zu missbrauchen, sondern der Weihnachtsbotschaft vom Frieden für alle auf die Spur zu kommen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DIE AUTORIN

Andrea Lehner-Hartmann ist Professorin für Religionspädagogik und Katechetik am Institut für Praktische Theologie. Seit 2011 ist sie Vorsitzende der Arge Religionspädagogik und seit 2013 Vorsitzende des Österreichischen Religionspädagogischen Forums. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich u. a. mit religiösem Lernen und religiöser Bildung in einer pluralen Gesellschaft.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.12.2015)

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