Ein nostalgischer Nachruf auf eine Lebensmittelkette der besonderen Art.
Traurig macht der Untergang der Lebensmittelkette Zielpunkt, deren Verkäuferinnen großteils aus dem ehemaligen Jugoslawien ein Biotop in dieser sich rasch wandelnden Welt darstellten – eine Insel, fröhlich und arbeitsam. Das einzige Geschäft, in dem dieselben Verkäuferinnen über Jahrzehnte zu einem Teil des Alltags wurden.
Selbstbewusst und eigenständig agierten sie, nichts von dieser fliegenden Hetze wie in anderen Geschäften, in denen das Tempo zählt; oder dieses pseudo-feudal-koloniale Verhalten mit Schürzchen und Häubchen.
Die Farben der 1970er-Jahre
Auch die Farben Orange und Mittelblau der Zielpunkt-Geschäfte spiegelten die 1970er-Jahre wider, als ein Lebensmittelgeschäft noch keine eigene Erlebniswelt darstellen musste, keinen Abenteuerurlaub, keine Safari mit gruseligem „Wohlfühlfaktor“, den man durch höhere Preise unverlangt mitbezahlen muss. Warum heißt es eigentlich Backshops, wenn es Bäckereien gibt?
Das Beste war, dass die Preise derselben Waren um 20, 30 Cent billiger waren als woanders; manchmal gab es sogar einen Euro Unterschied! Nun mag jemand sofort einwenden, dass diese günstige Preispolitik Zielpunkt letztlich doch den Hals gebrochen habe. Aber wer so argumentiert, vergisst, dass es genug Menschen in diesem reichen Land gibt, die jeden Euro dreimal umdrehen müssen und die trotzdem halbwegs qualitätsvoll leben wollen.
Verschärfter Leistungsdruck
Die laut Wertung des Konsumentenschutzes beste Sojamilch im Kühlregal, die beste Acidophilusmilch, Obstsaft in Glasflaschen, ohne grausigen Plastikgeschmack und ohne gleich ein Vermögen zu kosten – jeder Mensch, der lieber abends nach seinem ewig langen Arbeitstag todmüde online seine Lebensmittel bestellt und sie sich liefern lässt, darf gern lachen. In Zeiten, in denen die Verachtung für die Armut und die Armen wächst und in denen es als normal angesehen wird, dass Menschen Extrazüge brauchen, um auch an Samstagen ihre Arbeitsstellen sehr früh zu erreichen und sehr spät zu verlassen, ist dieses Lachen ein Armutszeugnis. Selbst der einzige freie und ruhige Tag in der Gesellschaft soll als Verkaufstag geöffnet werden!
Das Heruntermachen der Armen hat nun sogar die günstigen Geschäfte erreicht. Als Konsumentin wüsste ich gern, ob ein Bankmanager Zielpunkt weitere Kredite verweigert hat und wohin dieser Bankmanager einkaufen geht. Es ist ein Ärgernis, dass die meist von Frauen geführten Zielpunkt-Filialen jetzt zusperren müssen, die Eigenständigkeit der Verkäuferinnen angepasst wird an die verschärfte Leistungsgesellschaft, in der jedes Kassageräusch wichtiger ist als die Hand, die Lebensmittel darüber schiebt. Warum können sich Verkäuferinnen nicht zusammenschließen und ihre Filiale selbst übernehmen?
Krieg gegen die Armut
Erstmals habe ich mir einen Vorrat an Lebensmitteln angelegt, als ob Kriegszeit wäre; als sich die Preise für Mandeln von heute auf morgen um einen Euro erhöhten. Im täglichen Kampf der von Armut Bedrohten gilt es zu bestehen. Manchmal wünsche ich mir ein Programm wie das von US-Präsident Lyndon B. Johnson, der einen „War against Poverty“ ausrief, von dem hauptsächlich die amerikanischen Ureinwohner profitierten.
Bei uns wollen gut verdienende Politiker lieber die armen Mindestsicherungsbezieher ausspionieren. Politiker finden es sicher spannend, wie man mit so wenig Geld überleben kann. Das kann ja nicht mit rechten Dingen zugehen!
Kerstin Kellermann ist freie Journalistin in Wien. Unter anderem schreibt sie regelmäßig für die Obdachlosenzeitung „Augustin“.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.12.2015)