Weltmeister im Bewältigen der Vergangenheit

Liebe Deutsche, benehmt euch doch einfach wieder normal und steigt vom hohen Ross der moralischen Alleinseligmachung herunter! Dann werden euch auch die anderen Europäer endlich richtig vergeben.

Im Zusammenhang mit der Griechenlandkrise wurde wiederholt die Frage aufgeworfen, ob nicht Deutschland – genauer: das deutsche ökonomische und daraus resultierende politische Übergewicht beziehungsweise der Stil, wie Deutschland seine Interessen durchsetzt – das eigentliche Problem sei. Diese Ansicht wird durch die gegenwärtige Flüchtlingskrise eindrucksvoll bestätigt.

Auf den ersten Blick erscheint dies höchst widersprüchlich, suche Deutschland doch seine historisch bedingte „nationale Erlösung“ (Zbigniew Brzeziński) in der europäischen Integration: So will der Deutsche nicht mehr „deutsch“ oder gar „national“ sein, sondern „europäisch“ (oder „multikulturell“, „weltoffen“). Niemand führt so oft das Wort „Europa“ im Munde oder bemüht sich, Musterschüler der EU zu sein, wie die Deutschen – um sich bloß nicht dem Vorwurf auszusetzen, Deutschland verfolge gar nationale Interessen.

Hohes Sendungsbewusstsein

Das Problem ist jedoch, dass die Deutschen trotz all dieser Bemühungen immer noch ein hohes Sendungsbewusstsein haben, und sich nach wie vor als besonderes Volk betrachten, dass irgendwie über den anderen Völkern steht. Gut, vor 1914 haben das so ziemlich alle größeren europäischen Völker getan. Aber die Deutschen haben es während des zwölfjährigen Tausendjährigen Reiches doch auf die Spitze getrieben.

Eine derart massive Gewaltanwendung muss niemand mehr befürchten: Der moderne Deutsche kann keiner Fliege etwas zu leide tun – aber in deutschen Gehirnen ist die Vorstellung, dass der Deutsche den anderen Menschen etwas voraus hat, unvermindert präsent.

Nur die Vorzeichen haben sich geändert. War es einstmals der Stolz auf die angeblich überlegene Rasse, so ist es nun der Umgang mit genau den Verbrechen, die im Namen eben dieser Rasse begangen wurden. Niemand – so die deutsche Selbstsicht – hat es so meisterhaft verstanden wie die Deutschen, die eigene Vergangenheit zu „bewältigen“.

Seien es die spanische Eroberung Amerikas, die Napoleonischen Kriege, die Sklaverei in den USA, der britische Kolonialismus, die türkischen Massaker an den Armeniern, die Millionen Toten in Stalins Sowjetunion und Maos China, japanische Kriegsgräuel im Zweiten Weltkrieg – niemand hat sich auch nur annähernd so geschämt, so bereut, so viel gezahlt, sich so oft entschuldigt, sich so permanent schuldig gefühlt, dass Schuld quasi ein – wenn nicht das zentrale – Element der eigenen nationalen Identität geworden ist, wie die Deutschen für ihre Verbrechen während des Dritten Reiches.

Das allein kann mittlerweile nervig genug sein. So wurde schon vor Jahren im angelsächsischen Raum gewitzelt, dass ein Deutscher sich umgehend für den Holocaust entschuldigt, wenn man ihm bei der Bushaltstelle versehentlich auf die Zehen steige.

Moralischer Führungsanspruch

Weitaus mühsamer ist, dass dies zu einem moralischen Führungsanspruch geführt hat – nach dem Motto: Niemand ist besser dazu berufen als der Deutsche, der durch seinen eigenen Untergang in der von ihm geschaffenen Nazi-Hölle zu einer noch nie dagewesenen Reinheit geläutert wurde, in humanitär-moralischen Fragen voranzugehen; nur Deutschland kann die Last der moralischen Führerschaft des Westens – ach was, der ganzen Welt – auf seine Schultern nehmen.

Die Kehrseite dieser Medaille ist die unausgesprochene, zum größten Teil unterbewusste und uneingestandene Geringschätzung all jener, die nicht den gleichen Läuterungsgrad erreicht haben, also der Rest der Welt. Dies wiederum führt zu einer durch die angebliche moralische Überlegenheit legitimierte politische Gängelung anderer Nationen, wie eben im konkreten Fall der Flüchtlingskrise.

Da nimmt Deutschland allein aufgrund seiner „besonderen historischen Verantwortung“ (für den Syrien-Konflikt ist Deutschland ja leider kaum verantwortlich zu machen) eine so große Zahl von Menschen mit oft fragwürdigem Flüchtlingsstatus aus einem völlig fremden Kulturkreis auf, dass es die eigene innere Stabilität gefährdet (andere Länder haben freilich noch mehr Flüchtlinge aufgenommen, aber diese haben auch weniger zu verlieren). Und weil die Deutschen jeden – unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder Ausbildung – so herzlich willkommen heißen, wollen auch alle unbedingt nach Deutschland und bleiben nicht im ersten, zweiten oder dritten sicheren Transitland stehen.

Andere müssen mitziehen

Das ist historisch wohl auch einzigartig. Man könnte auch denken: einzigartig dumm. Doch ob dumm oder nicht, es ist wohl genau diese Einzigartigkeit, dieses Besondere, das nur die Deutschen fertigbringen, auf das der Deutsche insgeheim stolz ist. Dennoch kam man aus verschiedenen Gründen (vor allem in der früheren DDR, wo der Schuldkomplex aufgrund der 45-jährigen Zugehörigkeit zum antifaschistischen Block nach wie vor wenig bis gar nicht ausgeprägt ist) mittlerweile doch zunehmend zu der Erkenntnis, dass man sich mit dieser schuldhistorisch bedingten Willkommenskultur vielleicht etwas übernommen hat.

Aber weil der deutsche Weg in menschlich-moralischen Angelegenheiten der einzig richtige sei und der Deutsche hier natürlich nie und nimmer einen Fehler zugeben kann, müssen die anderen Europäer eben mitziehen.

Und wenn man sie nicht wirklich überzeugen kann, dann muss halt deutsche Macht eingesetzt werden, um den einzigartig edlen deutschen Willen durchzusetzen. Waren es 1933 bis 1945 die Androhung und tatsächliche Anwendung von Gewalt, so wird derzeit (und nicht zum ersten Mal) sanfte Gewalt in Form der deutschen wirtschaftlichen Macht (sprich: finanzielle Erpressung auf EU-Ebene) in die Waagschale geworfen, um die Unwilligen umzustimmen.

Wie Deutsche fühlen, handeln

Wobei es in erster Linie ja nicht einmal um Überzeugung geht. Denn selbst beim besten Willen könnten die anderen gar nicht wie Deutsche fühlen und handeln. Polen, Ungarn, Tschechen und Slowaken wollen keine Moslems aufnehmen? Was wissen diese „Völkchen“ denn schon von Schuld und Sühne?

Nur ein so außergewöhnliches Volk wie die Deutschen konnte solch einzigartige Verbrechen begehen, dass man so großartig bereuen und sich dadurch in höhere moralische Wesen verwandeln durfte. Deswegen beneiden andere Länder die Deutschen sogar um deren Berliner Holocaust-Denkmal (frei nach Eberhard Jäckel). Gerade in Polen und Tschechien wird man sich bei einer solchen Einstellung aber erst recht wieder an deutsche Verhaltensmuster während der Jahre 1933/45 erinnern.

Liebe Deutsche, benehmt euch doch einfach mal wieder normal und steigt vom hohen Ross der moralischen Alleinseligmachung herunter. Dann werden euch auch die anderen endlich richtig vergeben. Und ihr werdet auch als Nation Erlösung finden.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Dr. Thomas R. Grischany
studierte Geschichte in Hamburg und Wien, absolvierte die
Diplomatische Akademie Wien und arbeitete im Außenamt, bevor er 2007 an der University of Chicago promovierte. Seit 2013 Lehrbeauftragter an der Webster Vienna Private University. 2015 erschien sein Buch „Der Ostmark treue Alpensöhne: Die Integration der Österreicher in die großdeutsche Wehrmacht, 1938–45.“ [ Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.03.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.