Weltfremd rudert die EU durch das Mittelmeer

Auf der Suche nach Lösungen für die Migration greift man zu alten Blaupausen. Doch die Politik müsste neue Antworten wagen.

Die deutsche Bundesregierung bezeichnet so manch humorvoller Brite nur mehr als „the Hippie government“.Ist es Verzweiflung ob der vielen deutschen Alleingänge, die den Rest Europas vor den Kopf stoßen? Oder ist es Verachtung für die Weltfremdheit, die in Berlin wieder einmal herrscht?

Die pragmatischen Angelsachsen verstehen die deutschen Utopisten einfach nicht, die diesmal nicht von der Romantik, dem Kommunismus und anderen fatalen Heilsideen schwärmen, sondern offene Grenzen predigen. London wusste schon, warum man am Schengen-Abkommen nicht teilnahm. Als Kanzlerin Angela Merkel im September 2015 europäisches Recht über Nacht außer Kraft setzte, hat sie den britischen EU-Kritikern und damit der Brexit-Kampagne Auftrieb gegeben.

Dass mit dem unkontrollierten Zuzug von Flüchtlingen und Migranten auch Terroristen nach Europa gelangen würden, war absehbar. Jeder Terroranschlag und das europäische Lavieren – vom Kniefall in Ankara bis zu hohen Strafen für nichterfüllte Aufnahmequoten – bestätigt die EU-Kritiker in ihren Positionen und bringt dem Austrittsvotum Punkte. Trotzig rügt Merkel, dass die anderen unsolidarisch seien. Auch die Hippie-Bewegung von einst sah die Welt durch die rosarote Brille und sich selbst moralisch überlegen.

Inzucht und anderer Unfug

Für den ehemaligen britischen Außenminister und Brexit-Befürworter David Owen ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis ein großes europäisches Land kollabieren wird. Lord Owen hat hierbei die Wirtschaft im Auge, und er macht Deutschland scharfe Vorwürfe in der Handhabung der Krisen – von der Einheitswährung bis zur Migration. Im Visier hat er den wesentlichen Architekten dieser Politik, Finanzminister Wolfgang Schäuble.

Dieser lässt in der aktuellen Ausgabe der „Zeit“ mit kruden Thesen aufhorchen: „Die Abschottung ist doch das, was uns kaputtmachen würde, was uns in Inzucht degenerieren ließe. Für uns sind Muslime in Deutschland eine Bereicherung unserer Offenheit und unserer Vielfalt.“ Im Geburtsland von Charles Darwin lernt man in der Schule noch die Grundlagen zu Evolution und Inzucht, an der Deutschland sicher nicht krankt.

In der „FAZ“ fragt sich Christian Geyer, eine der mutigen Stimmen, angesichts dieser Wortwahl: „Ist die politische Degenerationsthese nun die politische Antwort auf das fehlende Einwanderungsgesetz? Dass die Sicherung der europäischen Außengrenzen völkischer Inzucht Vorschub leistet?“

Schäuble rutscht dieser Vergleich im genehmigten Zeitungsinterview nicht als derber Humor heraus. Abgesehen davon, dass diese Diagnose Ausdruck tiefer Verachtung für die eigenen Bürger ist, bringt die Einschätzung uns der europäischen Lösung nicht näher. Es zeigt sich am tiefen Graben zwischen London und Berlin, wie verfahren der Karren ist.

Hinzukommen die Klüfte zwischen Nord und Süd, wenn es um das richtige Haushalten, sowie zwischen West und Ost, wenn es um die vielzitierte Moral geht. Die EU reduziert sich zusehends auf Berlin und damit auf das deutsche Kanzleramt, von wo so mancher Unfug, wie etwa das Türkei Flüchtlingsabkommen, auf die EU-Agenda gesetzt wird. Damit erhält der Autokrat Erdoğan freie Hand für seinen Verfolgungswahn, und Brüssel lebt in gefährlicher Liaison. Scheinheilig ist tatsächlich vieles, was die EU im Mittelmeer versucht.

Die Realpolitik hat ihre Wiege nicht in Mitteleuropa, sondern bei Handelsmächten, wie den Briten. Es geht um einen klaren Blick auf die Wirklichkeit und das Machbare. Genau dies lässt aber die EU, die lange von französischer Verwaltungsmanie und nun deutscher Weltverbesserei bestimmt wird, in brisanten Fragen vermissen.

Hehre Absichten

Der jüngst vorgebrachte Vorschlag der Kommission, Migrationskooperationen mit afrikanischen Staaten zu schließen und hierfür über 30 Milliarden Euro auch über private Investoren bereitzustellen, um mit Zuckerbrot und Peitsche die Migration aus den bevölkerungsreichen Ländern zu kontrollieren, wiederholt alte Blaupausen. Die EU-Assoziierungsabkommen, die im Zuge des Barcelona-Prozesses 1995 umgesetzt wurden, scheiterten am fehlenden Verständnis der Zuständigen in der EU für die jeweiligen innenpolitischen Verhältnisse.

Die hehren Absichten, die an einen Marshall-Plan für den Mittelmeerraum erinnerten, wurden letztlich 2011 von den arabischen Revolten überrollt. Für Afrika hat man in Brüssel noch den mitleidigen Blick auf die Hungrigen, die das Ende des Kolonialismus nicht verkraften konnten. Dabei vergessen die Autoren dieser Vorschläge, dass Afrika seit geraumer Zeit im Umbruch ist. Die Entwicklungszusammenarbeit, oft Exportgarantie für den Norden, aufzustocken, ist ein Holzweg.

Almosen sind nicht die Antwort

Ebenso wenig wird man private Investoren verpflichten können, in einem schwierigen Umfeld zu investieren, wenn zugleich die ebenso weltfremd strikten EU-Regulierungen kaum unternehmerisches Risiko innerhalb der EU zulassen.

Brüssel hat verschlafen, dass China als wesentlicher Investor in Afrika am Anstieg eines neues Mittelstands seinen Anteil hat, aber ebenso die aktuellen Verwerfungen verursacht. Der asiatische Rohstoffhunger bewirkte das Wirtschaftswunder der letzten Dekade, die 2014 zu Ende ging. Bis vor Kurzem emigrierten mehr Europäer ins ölreiche Angola als umgekehrt. Entsprechend schwierig war es, ein Visum für Angola zu erlangen.

Nun zwingen die Preisbaisse und die neuerlich schlechte Lage auf dem Arbeitsmarkt, den oft Asiaten zu Dumpinglöhnen beherrschen, die Babyboomer zum Auswandern. Hinzukommen Klimaflüchtlinge vom Horn von Afrika und der Sahelzone.

Dass Europa und nicht der Nahe Osten die Flüchtlingsdramen bestimmen wird, haben einige begriffen. Doch europäische Almosen in Form von Entwicklungsgeldern sind nicht die Antwort. Ebenso wenig hilft die tägliche Rettung aus Seenot, wie eine Studie der Universität von Palermo zeigt, da sie das Schleppergeschäft anheizt. Vielmehr geht es darum, geregelte Reisebewegungen zu ermöglichen.

Europas Umbau zur Festung

Hierfür werden sich kaum gemeinsame europäische Lösungen finden. Vielmehr geht der Trend in Richtung regionale Zusammenarbeit, wie die Sperre der Balkanroute zeigt, und auch bilaterale Interessen. Es war einmal möglich, auf einem Konsulat eine Einreise zu beantragen, ob als Student, als nachweislich politisch Verfolgter oder als Tourist.

Der Umbau Europas zur Festung hat dazu geführt, dass die illegale Migration überhandnahm und offizielle Antragsteller das Nachsehen haben. Man mag Außenminister Sebastian Kurz für seine Vorschläge kritisieren, aber er hat ein heißes Eisen angepackt und nimmt dafür auch Fehden in Kauf. Die Zeit für die bisherige weltfremde Politik läuft aus. Ansonsten kommen nur die Stärksten durch, womit wir wieder bei Schäubles Inzucht wären. Damit wollen Hippies aber sicher nichts zu tun haben.

DIE AUTORIN

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Karin Kneissl
(*1965 in Wien) studierte Jus und Arabistik in Wien. Sie war 1991/1992 Studentin an der ENA. 1990 bis 1998 im diplomatischen Dienst, danach Lehrtätigkeit. Zahlreiche Publikationen, darunter: „Die Gewaltspirale. Warum Orient und Okzident nicht miteinander können“ (2007); „Mein Naher Osten“ (Braumüller, 2014). [ Privat ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.06.2016)

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