Eine klare Fehlentscheidung des VfGH

Der Verfassungsgerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 1. Juli zur Aufhebung der Stichwahl zum Bundespräsidenten die verfassungsrechtliche Situation mehrfach grob verkannt. Eine Antwort an Johannes Schnizer.

In einem Interview für die Wochenzeitung „Falter“ (39/16) hat Johannes Schnizer die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs vom 1. Juli, mit dem die Stichwahl zum Bundespräsidenten aufgehoben wurde, verteidigt. Einer Kritik, die unter anderem von mir an diesem Erkenntnis geübt wurde, hält Schnizer entgegen, er würde „gern gute juristische Gründe hören, warum der Verfassungsgerichtshof von seiner langjährigen Judikatur hätte abgehen sollen“. Da sind die von ihm erbetenen „guten juristischen Gründe“.

Bemerkenswert ist zunächst, dass Schnizer auf die verfassungsrechtliche Grundlage für die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs nicht Bezug nimmt. Artikel 141 Abs. 1 BVG bestimmt, dass der Verfassungsgerichtshof einer Anfechtung stattzugeben hat, „wenn die behauptete Rechtswidrigkeit des Verfahrens erwiesen wurde und auf das Verfahrensergebnis von Einfluss war“.

Zwei Voraussetzungen

Für eine Aufhebung einer Wahl durch den Verfassungsgerichtshof müssen also zwei Voraussetzungen gegeben sein: Eine Rechtswidrigkeit des Verfahrens und ein Einfluss dieser Rechtswidrigkeit auf das Verfahrensergebnis müssen erwiesen sein.

Schnizer führt aus, dass bei der Auszählung der Wahlkartenstimmen in Zehntausenden Fällen das Wahlgeheimnis verletzt worden sei, weil die auszählende Person feststellen konnte, wie eine bestimmte Person abgestimmt habe. Dass eine solche Vorgangsweise eklatant rechtswidrig ist, ist zutreffend. Unzutreffend ist aber Schnizers Schlussfolgerung, dass nicht auszuschließen sei, dass diese Rechtswidrigkeiten dazu geführt haben können, „dass manipuliert wurde“.

Was die Verletzung des Wahlgeheimnisses bei Auszählung der Wahlkartenstimmen mit einer möglichen Manipulation zu tun hat, ist unerfindlich. Wenn jemand tatsächlich manipulieren will, so benötigt er dazu nicht Kenntnis über die Identität des Wählers. Abgesehen davon haben weder der Anfechtungswerber noch der Verfassungsgerichtshof selbst eine Manipulation behauptet; der Verfassungsgerichtshof hat vielmehr festgestellt, dass es keine Hinweise auf eine Manipulation gegeben habe.

In der Folge beruft sich Schnizer auf die ständige Judikatur des Verfassungsgerichtshofs, nach der es für eine Aufhebung einer Wahl ausreiche, dass eine Verletzung von Vorschriften eine Manipulation möglich macht. Damit setzt sich Schnizer über den klaren Wortlaut des Artikel 141 BVG hinweg; es sei in Erinnerung gerufen, dass diese Bestimmung fordert, dass eine Rechtswidrigkeit tatsächlich auf das Wahlergebnis von Einfluss war.

Gefordert ist der volle Beweis

Bei der Frage, ob es einen solchen Einfluss gegeben hat, handelt es sich um eine sogenannte Tatsachenfrage, die einem Beweisverfahren zu unterziehen ist. Gefordert ist der volle Beweis. Lehre und Rechtsprechung sprechen in diesem Zusammenhang davon, dass die Gewissheit des Vorliegens einer entscheidungsrelevanten Tatsache herbeizuführen ist.

Als „gewiss“ sind Tatsachen dann anzusehen, wenn sie mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit vorliegen; gelegentlich wird auch davon gesprochen, dass eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit erforderlich ist. Eine absolute Sicherheit ist für eine solche Feststellung weder notwendig noch möglich (Karl Popper).

Es ist leicht erkennbar, dass Schnizer mit seiner Argumentation den klaren Text der Verfassung ignoriert. Dem Verfassungsgerichtshof lag bei seiner Entscheidung – wie mir erst später bekannt wurde – eine Analyse des Ergebnisses der Stichwahl durch den Statistiker Professor Erich Neuwirth vor. Neuwirth ist zum Ergebnis gekommen, dass ein solcher Einfluss auszuschließen ist (vgl. Neuwirth, Jusletter IT 22. September 2016). Schnizer hat diese Stellungnahme ebenso wie der Verfassungsgerichtshof ignoriert.

„Irrelevante“ Untersuchungen

Schnizer erklärt solche „Wahrscheinlichkeitsrechnungen“ für irrelevant. Er verkennt damit ebenso wie der Verfassungsgerichtshof, dass statistische Untersuchungen keine Prognoseentscheidungen, Konjunktiventscheidungen oder Spekulationen sind, sondern wissenschaftliche Aussagen über die Gewissheit des Vorliegens einer entscheidungsrelevanten Tatsache.

Dass Schnizer und mit ihm der Verfassungsgerichtshof die Bedeutung einer statistischen Untersuchung für die Feststellung des Vorliegens von Tatsachen als „irrelevant“ abtun, zeigt, dass ihnen offenbar gar nicht bewusst war, dass der Einfluss auf das Wahlergebnis in einem Beweisverfahren zu beurteilen ist. Sind DNA-Analysen oder versicherungsmathematische Aussagen auch irrelevante „Wahrscheinlichkeitsrechnungen“?

Der VfGH hätte sich mit den Überlegungen von Neuwirth auseinanderzusetzen gehabt und im Zweifelsfall einen Gutachter bestellen müssen, der die Frage eines möglichen Einflusses der festgestellten Rechtswidrigkeiten auf das Wahlergebnis beantwortet.

Schnizer beruft sich für seine Auffassung nicht auf den Text der Verfassung, wohl aber auf die bisherige Judikatur. Man habe Wahlen immer schon aufgehoben, wenn Vorschriften verletzt wurden, die eine Manipulation möglich gemacht haben. Ich lasse es dahingestellt, ob es einen vergleichbaren Fall zur Aufhebung der Stichwahl schon gegeben hat; ob also der Verfassungsgerichtshof tatsächlich bereits einmal eine Wahl aufgehoben hat, bei der ein Einfluss einer Rechtswidrigkeit auf das Wahlergebnis ausgeschlossen war.

Änderung der Judikatur

Entscheidend ist vielmehr, dass eine ständige Judikatur keine Rechtsgrundlage darstellt, die die Richtigkeit einer Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs begründen kann. Der Verfassungsgerichtshof steht nicht über der Verfassung, sondern hat deren Einhaltung zu garantieren. Stellt sich heraus, dass eine bisherige Rechtsprechung unhaltbar ist, so hat der Verfassungsgerichtshof seine Judikatur zu ändern. Solche Judikaturänderungen kommen bei allen Höchstgerichten immer wieder vor.

Schnizer macht deutlich: Der Verfassungsgerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 1. Juli die verfassungsrechtliche Situation mehrfach grob verkannt. Er hat nicht erkannt, dass ein Einfluss auf das Wahlergebnis ein Sachverhaltselement ist, dessen Gewissheit in einem Beweisverfahren herbeizuführen ist. Er hat auch nicht erkannt, dass statistische Analysen wissenschaftliche Aussagen über die Gewissheit des Vorliegens von Tatsachen sind.

Der Verfassungsgerichtshof hat damit die verfassungsrechtliche Situation sowohl inhaltlich wie auch verfahrenstechnisch falsch beurteilt und eine klare Fehlentscheidung getroffen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Em. o. Univ. Prof. DDr. Heinz Mayer (*1946 in Mürzzuschlag) studierte Rechtswissenschaften an der Universität Wien. Er wirkte bis zu seiner Emeritierung am 1. Oktober 2014 am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Uni Wien und war von 2006 bis 2014 Dekan dieser Fakultät. [ Clemens Fabry]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.10.2016)

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