Libanon will nicht erneut Pulverfass werden

Während die EU den Libanon zum Warteraum für syrische Flüchtlinge umfunktionieren möchte, wächst in Beirut die Sorge, dass die Syrer wie einst die Palästinenser dauerhaft bleiben und die Basis für neue Unruhen schaffen.

Nach fast 30 Jahren andauernder Okkupation verließen die syrischen Besatzungstruppen im Frühjahr 2005 den Libanon. Danach erfolgte erstmals ein Botschafteraustausch. Damaskus hatte den Libanon stets als Teil eines „natürlichen Syriens“ aufgefasst und die von Mandatsmächten Großbritannien und Frankreich 1923 demarkierten Grenzen nie anerkannt.

Auf den offiziellen syrischen Karten war der Libanon nicht als souveräner Staat eingezeichnet. Damaskus behandelte den Libanon als seinen Hinterhof, wo syrische Geheimdienste ihr Unwesen trieben und die regierungsnahe Mafia an der weitverbreiteten Korruption mitschnitt.

Inzwischen stöhnen die Libanesen nicht mehr unter der militärischen Repression der Syrer, sondern versuchen mit den rund 1,5 Millionen Flüchtlingen aus dem benachbarten Bürgerkriegsland einigermaßen zurechtzukommen.

Staat im Staate

Besonders irritierend finden die meisten offiziellen Stellen in Beirut den Wunsch der Europäer, möglichst viel Geld in die Flüchtlingsmisere im Libanon zu pumpen, damit diese nicht weiter nach Europa ziehen mögen. Ihre Sorge, dass die Syrer zu den neuen Palästinensern werden könnten, ist dabei nur allzu berechtigt.

Der Libanon pflegt die Tradition der Gastfreundschaft und Aufnahme von Flüchtlingen seit Generationen. Infolge der Kriege zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn sowie der Vertreibung von Palästinensern wurde der Libanon seit 1948 zu deren Hafen. Bald ging es nicht mehr nur um die Aufnahme von Menschen, sondern um Aktionen der Palästinenser gegen Israel.

Als die Spitzen der palästinensischen Befreiungsorganisationen, allen voran die PLO, im September 1970 gegen den jordanischen König Hussein den Aufstand probten, fackelte dieser nicht lang. Zehntausende Palästinenser wurden binnen Kurzem von den jordanischen Truppen getötet. Die Überlebenden unter den Rädelsführern gingen nach Beirut, wo sich die linke arabische Avantgarde einrichtete und von der Weltrevolution träumte. Ihre Partner sollten bald deutsche Terroristen aus dem Umfeld der RAF werden.

Hundertausende Palästinenser hatten im Südlibanon einen Staat im Staate geschaffen, das Fatah-Land. Die libanesische Regierung wurde von den arabischen Bruderstaaten verpflichtet, Territorium für „die palästinensische Sache“ zur Verfügung zu stellen.

Die Angriffe der PLO auf Israel wurden mit militärischen Schlägen tief in den Libanon beantwortet. Beirut verkam zur „Hauptstadt des Terrorismus“. Aus der einstigen Drehscheibe der Fluglinien, Banken und Verlagshäuser wurde ein international isoliertes Land, wo die selbst ernannten Freiheitskämpfer aller Herren Länder ihre Reviere absteckten.

Libanon als Mikrokosmos

Bis heute leben rund 400.000 Palästinenser in den Lagern. Von revolutionärer Avantgarde ist nichts mehr übrig. Polygamie und radikaler politischer Islam prägen die palästinensische Gesellschaft im Libanon. Der Bürgerkrieg, der 1975 offiziell begann, hörte 1990 mit dem Schweigen der Kanonen auf. Gelöst wurde wenig.

2007 lieferten sich die libanesischen Streitkräfte und palästinensischen Islamisten monatelang Gefechte im Lager Nahr al Bared bei Tripoli. Die Armee hielt dieser gewaltigen Belastung stand und zahlte einen hohen Blutzoll. Terroristen sprengten sich nicht in die Luft, sondern besetzten Viertel und kämpften. Die US-Armee ließ sich die Strategie der libanesischen Generäle genau erklären, um für zukünftige Einsätze zu lernen.

Der Libanon war neuerlich ein Mikrokosmos der Kriegsführung geworden. Denn die nächste Phase terroristischer Anschläge wird Gefechte und Okkupation von Vierteln umfassen, darin sind sich die Nachrichtendienste einig. Nun droht wieder Ungemach, wegen eines Flüchtlingsproblems zum Kriegsschauplatz zu werden.

Werden die Syrer bleiben?

Seit 2012 strömen syrische Flüchtlinge in den Libanon. Derzeit stellen sie rund 25 Prozent der Bevölkerung. Letztere begegnet mit bewundernswerter Langmut der neuen Krise. Teile des Landes sind bereits in den in Syrien tobenden Stellvertreterkrieg hineingezogen.

Autobomben werden hereingeschmuggelt, Anschläge des IS beuteln das Land. Syrische Flüchtlinge werden immer wieder als Attentäter identifiziert. Zugleich engagieren sich Lehrer und Ärzte für die Nachbarn, die nun Schutz suchen.

Fragt man syrische Kinder in den Beiruter Schulen, ob sie in ein friedliches Syrien heimkehren würden, lautet die Antwort meist Nein. Sie wollen im Libanon bleiben, denn hier gibt es Freiheit. Was die „Arab Development Reports“ des UNDP seit 2002 untersuchten, bestätigt sich in diesen Schulklassen: Das Fehlen politischer und wirtschaftlicher Freiheit ist ein Hemmschuh für die Region.

Während die Syrer im Niedriglohnsektor die Libanesen verdrängen, die Wasser- und Stromversorgung von Flüchtlingen angezapft wird, will man nun in Beirut nicht von Brüssel und europäischen Aufnahmeländern gute Ratschläge erhalten, wie man die Flüchtlinge langfristig versorgen könnte. Halbierte die Gebergemeinschaft Anfang 2015 ihre Beiträge an UN-Organisationen, was einer der vielen Auslöser für den Exodus im Vorjahr war, werden nun die Geldhähne großzügig aufgedreht.

Fragiles Proporzsystem

Doch es geht nicht nur um humanitäre Versorgung. In Beirut wächst die Sorge, dass die neue Bevölkerungsgruppe sich dauerhaft einrichtet – und dies mit dem Segen der EU. Das zerbrechliche Proporzsystem im Libanon basiert auf dem Konsens von 18 Religionsgemeinschaften. Nach langer Vakanz wurde diese Woche der einstige General Michel Aoun zum Staatschef bestellt. Dieser ist stets maronitischer Christ, alle weiteren Ämter sind gemäß einem konfessionellen Schlüssel aufgeteilt.

Die Gefahr wächst, dass wie in den 1970er-Jahren das demografische Gefüge kippt, denn die Zahl der Sunniten steigt mit den 1,5 Millionen Syrern. Christen ebenso wie Schiiten verfolgen das mit Argusaugen. Wenn es zur Stabilisierung Syriens kommt, werden Tausende Kämpfer der schiitischen Hisbollah heimkehren. Sie haben jahrelange Fronterfahrung und viel erlebt im Kampf gegen sunnitische Verbände. Ihre Expertise könnten sie in eine neue Konfrontation stecken.

Will man den Libanon zum syrischen Warteraum oder sogar Dauergastraum umfunktionieren, riskiert man die nächste Runde in der nahöstlichen Tragödie. Die Syrer, die im Libanon ausharren, sollten mithilfe der UN-Behörden und europäischen Geldern möglichst rasch wieder in ihre Heimatorte gebracht werden. Das Ende des innenpolitischen Patts im Libanon mit der Bestellung des Präsidenten und einer neuen Regierung zeigt für das regionale Schachbrett eines klar: Saudiarabien und der Iran wollen keinen weiteren Stellvertreterkrieg. Der niedrige Ölpreis sorgt für magere Kriegskassen und zwingt zu anderer Prioritätensetzung.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DIE AUTORIN



Karin Kneissl
(*1965 in Wien) studierte Jus und Arabistik in Wien. Sie war 1991/1992 Studentin an der ENA. 1990 bis 1998 im diplomatischen Dienst, danach Lehrtätigkeit. Zahlreiche Publikationen, darunter: „Die Gewaltspirale. Warum Orient und Okzident nicht miteinander können“ (2007); „Mein Naher Osten“ (Braumüller 2014) . [ Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.11.2016)

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