Politik und Moral hatten ein Baby. Sie nannten es Sport.

Die Aufdeckung des systemischen russischen Dopings und die Folgen.

Man kennt das von Fußballklubs wie Rapid oder Schalke 04. Authentizität und Glaubwürdigkeit sind die Geschäftsgrundlagen, die Erfolg und Wohlergehen von Sieg und Niederlage unabhängig machen sollen. Man nennt sich Rekordmeister von Österreich, auch wenn eine Reihe von Titeln aus einer Zeit stammt, als Österreich ausgelöscht war. Oder man pflegt eine Verbundenheit mit einem Arbeitermilieu, mit dem die balltretenden Millionäre weniger gemein haben als Rechtspopulisten mit dem von ihnen zitierten „Volk“.

Der Sport insgesamt folgt dem Glauben an Bodenständigkeit und Gleichheit. Daher darf er Doping nie freigeben. Die den Sportwettkämpfern zugeschriebene natürliche (unverdorbene, gottgegebene) Gleichwertigkeit des Körpers würde sich in Hormone, Zusatzstoffe und Aufputschmittel auflösen.

Als die Weltantidoping-Organisation Wada die Berichte des kanadischen Juristen Richard McLaren über das mithilfe staatlicher Institutionen organisierte Dopingsystem in Russland veröffentlichte, herrschte weltweit große Empörung. Das Glaubensbekenntnis an Fairness und Chancengleichheit der Sportler war bedroht. Daher forderten alle Guten den kollektiven Ausschluss aller russischen Sportler von den Sommerspielen 2016 in Rio. Egal, ob der Sportler eines Dopingvergehens schuldig war oder nicht. Nationale Zugehörigkeit wurde als Vergehen betrachtet.

Aposteln der Reinheit

Die Aposteln der sportlichen Reinheit setzten die Unschuldsvermutung, eine demokratische Zentralverriegelung gegen Unrecht, außer Kraft. Das IOC folgte der Forderung der Moralhüter nicht und ließ einige russische Athleten in Rio antreten. Das Internationale Paralympische Komitee IPC schloss die gesamte russische Mannschaft aus, ohne über Schuld oder Unschuld der Betroffenen befunden zu haben. Seither gilt das IPC als Brückenkopf des sauberen Sports. Das ist auch deswegen leicht argumentierbar, weil IOC-Präsident Thomas Bach die russische Whistleblowerin Julya Stepanowa, die den Skandal öffentlich gemacht hatte, nicht an den Sommerspielen teilnehmen ließ. Bachs bizarre Begründung: Sie habe „ethische Defizite“ aufgewiesen.

Übergangene Grundechte

Die Russen haben ein Riesenproblem, während der Winterspiele in Sotschi 2014 wurden Dopingproben russischer Athleten mithilfe des russischen Geheimdienstes FSB „gesäubert“. Das hat der ehemalige Leiter des Moskauer Antidopinglabors, Grigorij Rodtschenkow zugegeben. Er ist in den USA untergetaucht, wahrscheinlich fürchtet er um sein Leben.

Doch der Unfug kann nicht dazu führen, dass Grundrechte außer Kraft gesetzt und damit der Sport zu einer – angeblich „besseren“ - Parallelwelt mit Paralleljustiz gemacht wird. Der Moralapostel Wada nützt die Skandale, um seine Position zu festigen. Derzeit sind acht von 35 Antidopinglabors disqualifiziert. Die Vereinigung der Labors lässt sich ihre Gängelung durch die Wada leider gefallen.

Der Physiker Werner Heisenberg (1901 bis 1976) hat in seiner Unschärferelation – sinngemäß und vereinfacht – festgestellt, dass sich Sachverhalte schon durch deren bloße Betrachtung verändern. Was also, wenn die Wada auch Sportler der USA und anderer Nationen mit derselben Schärfe betrachtet? Das russische Problem würde nicht verschwinden oder harmloser werden, jedoch seine Einzigartigkeit verlieren. Und die Aktien der journalistischen und funktionärsmäßigen Inquisitoren könnten eine Kurskorrektur vertragen.

Mag. Johann Skocek (geboren 1953) ist Journalist und Buchautor. Er hat sich auf die Hintergrundberichterstattung im Dreieck Sport, Wirtschaft und Politik spezialisiert.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

(Print-Ausgabe, 19.01.2017)

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