Der Literaturmonat und ein bisschen mehr Freiheit

Nobelpreis und Buchmesse: Warum Herta Müllers Exmann den Preis eher verdient hätte, und warum der Frankfurter China-Schwerpunkt eine– sogar genutzte – Chance war.

Der Oktober hat es literarisch – zumindest in unseren Breiten – richtig in sich. Am zweiten Donnerstag wird der Nobelpreisträger des Jahres bekannt gegeben, und immer wieder höre ich, ohne es tatsächlich glauben zu können, dass sich in Wien und anderen urbanen österreichischen Gefilden Schriftstellerinnen, vor allem aber Schriftsteller gehobenen Alters und übersteigerter Selbsteinschätzung beziehungsweise Selbstüberschätzung, schon am Vormittag in Telefon- oder Handynähe aufhalten, um das Klingeln aus Stockholm nicht zu überhören, eigentlich aber, um ein Jahr weiter zu warten. Natürlich könnte ich hier zwei oder drei Namen aus dem Ärmel schütteln. Die Leserin und der Leser seien aber höflich aufgefordert, selbst das Internet durchzublättern und nach Einträgen heimischer Dichter in der schönen schwedischen Sprache zu suchen. Die besonders gewitzten sind darauf aus, zu Buchübersetzungen in schwedischer Sprache zu kommen, was selbstredend jeder und jedem unbenommen bleiben soll. Ob es tatsächlich hilft, ist eine andere und die wesentlichere Frage.

Heuer hat die Akademie wieder für eine ihrer schon gewerbsmäßigen Überraschungen gesorgt. „Herta who?“ war angeblich außerhalb Europas die erste Frage. Herta Müller sei der Preis vergönnt, weil es mich immer von ganzem Herzen freut, wenn in unserer bis heute noch nicht gleichberechtigten und nicht ganz gerechten Welt Frauen oder Minderheiten anerkannt und bepreist werden. Bei Herta Müller trifft in einer Person beides zusammen, was besonders ökonomisch ist. Ich habe beileibe nicht vor, mich an dieser Stelle als großer Literaturwissenschaftler hervorzutun, wäre aber noch um einiges begeisterter, wenn Müllers geschiedener Ehemann, ebenso Rumäniendeutscher, ausgezeichnet worden wäre.

Richard Wagner ist der größere Kopf

Der Gewesene heißt, wie man vielleicht doch weiß, Richard Wagner, ist siebenundfünfzig Jahre alt, und seine wichtigsten Bücher sind in den Verlagen Luchterhand und Rotbuch erschienen. Wagner beherrscht die Klaviatur zweier Fächer leichthändig und scharfkantig, die Literatur und das Intellektuelle. Wer sich überzeugen will, dem seien seine Erzählungen „Ausreiseantrag“ (1988) und „Begrüßungsgeld“ (1989) empfohlen. Aus der zweiten Abteilung kann das essayistische Buch „Völker ohne Signale“ (1992) über den Epochenbruch in Osteuropa begeistern. „Das Jahr 1989 strahlt magisch“, heißt es bei Wagner, offensichtlich hat es heuer bis in die Akademie gestrahlt. Ich jedenfalls halte Richard Wagner für den größeren Kopf.

Dazu fällt mir ein, dass ich vor ungefähr zwei Jahren um diese Zeit mit Professor Wendelin Schmidt-Dengler freundschaftlich über die Literaturnobelpreisvergabe diskutiert habe. Naturgemäß haben wir auch über den ehemals ewigen Kandidaten der präjelinekschen Zeit für diese Promovierung gesprochen. Der Germanist war der uneingeschränkten Überzeugung, sein Protegé Peter Handke werde den Preis mit hundertprozentiger Sicherheit bekommen, und zwar in absehbarer Zeit. Er war ebenso überzeugt, dass Handke seine umstrittenen Aufsätze aus den Siebziger- und den letzten Jahren bei den Beratungen im Literaturkomitee nicht schaden würden. Ich kann nur sagen, dass Wendelin Schmidt-Dengler in den allermeisten Fällen recht behalten hat.

Der zweite und vielleicht wichtigere Oktobertermin, weil er um ein Vielfaches mehr Schriftstellerinnen und Schriftsteller als die Stockholm-Entscheidung betrifft, ist die Frankfurter Buchmesse. Sie ist gleichsam die Legitimation für die Schreiber, weil die Bücher der „zentrale Beleg dafür sind“, dass die Autoren „Schriftsteller sind“, wie es der Bücherexperte Rüdiger Wischenbart kürzlich ausgedrückt hat. Der Buchmesse geben unstrittig die haptischen Literaturausgaben ihre dingliche Relevanz – und die inhaltliche das Jahresthema, das heuer nicht aus literarischer, aber demokratiepolitischer Sicht ein relatives Wagnis in sich geborgen hat. Nicht für die hessischen „Buchmacher“, sondern für die chinesischen Aussteller.

Ein bisschen mehr Freiheit

China ist einer der letzten Staaten, der den Massen die Spielregeln mit einer Erstaunen machenden Selbstsicherheit vorgibt. China bestimmt, was in China geschieht. Und nun hat sich das Riesenland auf eine Veranstaltung begeben, deren Verlauf es weder abgewickelt noch beherrscht hat. Eine eher ungewöhnliche Erfahrung. Europa hat diese Chance erkannt und sie sozusagen zurückhaltend beim Schopf gepackt. China hat in Frankfurt nicht verhindern können, dass intellektuell mit China über China diskutiert wurde. Die Messedirektion und jene, die hinter ihr stehen, haben sich nicht vorschreiben lassen, wer sich bei Disputen zu Wort melden darf oder nicht. Konflikte waren vorprogrammiert. Die Messeorganisatoren waren wohl auf den einen und anderen Eklat gefasst.

Bundesdeutsche Stimmen behaupten, dass sich China derzeit in einer ähnlichen Situation befindet wie die späte Sowjetunion und sich Opponenten vor allem in Deutschland kein Blatt vor den Mund nahmen, zumal der Schutz des einzelnen Menschen, hier desjenigen, der sich zu Wort meldet, durch die Gesellschaft und Öffentlichkeit ein westliches Konzept ist, das sie in Anspruch genommen haben.

Bei all diesen Überlegungen geht es jedoch um zwei Zwecke: die Popularisierung der chinesischen Literatur im deutschsprachigen Raum und ein bisschen mehr Freiheit für die Schreibenden, die diese Literatur schaffen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.10.2009)

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