Gastkommentar

Globuli, Gluten und Glaubensfragen

Der „Eingebildete Kranke“ als Melkkuh der Industriegesellschaft: Produkte „Frei von xy“ oder „Nein zu...“ sind heute vielfach nichts anderes als starke industrielle Marken – und ihre Kunden agieren wie hörige Lemminge.

Da, bitte – hier steht es schwarz auf weiß: verfünffacht! Und das steht nichtirgendwo, sondern im „Spektrum der Wissenschaft“. Bei fünfmal mehr Menschen wird heute Zöliakie diagnostiziert als noch vor 25 Jahren. Ist also diese durch einen Gendefekt verursachte entzündliche Krankheit, die einen Verzicht auf Getreideeiweiße („Gluten“) bedingt, tatsächlich dabei, zur Volkskrankheit, zu einem hässlichen Spiegelbild unserer degenerierten Gesellschaft zu werden?

Nun, „Verfünffachung“ heißt in diesem Fall: von 0,06 auf 0,3 Prozent der Bevölkerung. Ein Anstieg, der auch durch bessere Diagnosemöglichkeiten erklärt wird, und dazu führt, dass unter 300 Menschen (statistisch gesehen) ein Zöliakiebetroffener ist. Für diese Menschen (und nur für diese) ist es tatsächlich geboten, glutenhaltige Produkte strikt zu meiden und eine aufwendige Diät einzuhalten. Das ist kein Spaß.

„Frei von. . .“ das neue Sehr gut

Es ist kompliziert und teuer, will man sich keine Mangelsymptome einfangen. Seriöse Medizinerinnen und Ernährungswissenschaftler sind sich einig: Wer nicht unter Zöliakie leidet und sich „aus vorauseilendem Gehorsam“, welchem Trend auch immer folgend, glutenfrei ernährt, begeht Unfug.

Das Konsum- und Kaufverhalten durch bewussten Verzicht auf bestimmte Bestandteile auszurichten ist ein wesentliches Element geworden, um sich Konturen zu geben und ein Stück weit unverwechselbar zu werden. Und Sie? Sie haben noch nicht ihre ganz individuell zusammengestellte „Best of frei von. . .“–Liste? Dem kann abgeholfen werden.

Unternehmen wie „Theranos“ in Kalifornien – auch im deutschen Sprachraum schießen ähnliche Firmen wie Schwammerln aus dem Boden – versprechen, aus nur einem Tropfen Blut, Dutzende Unverträglichkeiten herauslesen zu können. Gegen gutes Geld, versteht sich. Allein – die analytischen Methoden hinter den „Befunden“ werden ebenso heftig kritisiert wie die Tendenz, den Kunden Krankheiten und Mängel zu attestieren, die gar nicht vorhanden sind. Die US-Aufsichtsbehörden haben gegen „Theranos“ jedenfalls einschlägige Ermittlungsverfahren eingeleitet.

Sich vom Einheitsbrei abheben und das „Ich“ zu gestalten – dafür ist vielen, so scheint's, kein Preis zu hoch. „He! – ich bin der, der kein Gluten verträgt“ oder „Ich bin die, mit den zwei Dutzend Unverträglichkeiten“ oder „Ich bin der, der auf die Schulmedizin pfeift“ sind solche Slogans, die auf der imaginären Visitenkarte von Millionen Menschen stehen.

Eine breit gefächerte Industrie bietet eine Palette an Möglichkeiten zur Selbstkonturierung und flutet den Markt mit entsprechenden Produkten, denn „Frei von. . .“ ist das neue Sehr gut.

Weil der Patient daran glaubt

Subjektive Wahrnehmung wirkt dann noch selbstverstärkend: Man ragt jetzt aus der Masse, tut etwas aktiv dafür, hat mehr Selbstbewusstsein und siehe da – „Es tut mir gut, glutenfrei zu essen“. „Er tut mir gut, der Verzicht auf – diese und jenes“. Oder auch: „Schau, die wirken, die Globuli mit Arnika D40“. Auch wenn weder Glutenunverträglichkeit vorlag noch in den homöopathischen Zuckerkugerln irgendetwas Wirksames enthalten ist – das Wohlbefinden steigt. Schlicht, weil der Patient daran glaubt.

Das wiederum hat seinen Grund etwa in der nachweislich hohen Empathie von einschlägigen Beratern – etwa von Homöopathinnen und Homöopathen. Julia Merlot analysiert treffend im „Spiegel“: „Beim Homöopathen läuft das deutlich geschmeidiger. Er nimmt sich Zeit, vermittelt dem Patienten das Gefühl, sich für ihn, seine Probleme und Lebenssituation zu interessieren. Am Ende der Anamnese empfiehlt er die Einnahme eines Medikaments, das angeblich wirkt, aber so gut wie keine Nebenwirkungen habe.“

Wo sich der Spaß aufhört

Obwohl die Wirkungslosigkeit homöopathischer Arzneien vielfach bewiesen ist, berichten selbst Ärzte von positiven Erfahrungen mit bestimmten Inhaltsstoffen – und glauben damit wahrscheinlich ernsthaft selbst an ihre Wirksamkeit. Das macht sie jedenfalls für ihre „Kundinnen und Kunden“ überzeugender.

Julia Merlot weiter: „Trotzdem macht die Homöopathie etwas richtig: Sie nutzt den Placeboeffekt. Er entsteht durch Zuwendung und eine positive Erwartungshaltung: ,Es wird mir bald besser gehen.‘ Das ist mehr als Einbildung. Im Körper kommen durch Zuwendung und liebevolles Kümmern biochemische Prozesse in Gang, die den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen können.“

Die „positiven“ Erfahrungen, die Homöpathen mit „Arnika D 40“ gemacht haben hätten sie natürlich auch mit „Spinnenbein D 20“ gemacht – es kommt ja bei Homöopathie nicht auf den Inhaltsstoff an, sondern auf den Glauben daran.

Es ist also eine Sache, wenn Menschen ihr Geld beim Homöopathen lassen, sich teures „Frei von xy“ Zeugs kaufen oder sich nicht gegen Influenza impfen lassen, weil irgendein Guru gemeint hätte, dies führe zu Autismus. Diese Entscheidungen stimulieren einerseits bestimmte Wirtschaftszweige und führen andererseits dazu, dass sich die Menschen beginnen zu spüren, Konturen gewinnen,sich besser fühlen.

Wenn mit zweifelhaften Methoden und aus wirtschaftlichem Interesse jedoch gesunden Menschen suggeriert wird, sie seien krank,oder Ärzte zu spät den Pfad der lustigen Kugerln verlassen und so eine womöglich dringend gebotene schulmedizinische Behandlung verweigern, dann hört sich der Spaß auf und es beginnt womöglich, kriminell zu werden.

Sinistre Machenschaften

Unerträglich ist es, Äußerungen von sogenannten „Impfverweigerern“ zu lesen, die – oft beeinflusst von irrlichternden „Experten“ – lichtvoll die okkulten Gefahren der Immunisierung und die sinistren Machenschaften der „Impfindustrie“ ausbreiten um zu erklären, sie und ihre Kinder würden da eben nicht mitmachen und stattdessen mit Gleichgesinnten eine „Masernparty“ veranstalten.

Schlimm genug, sich und die eigenen Kinder der Infektionsgefahr auszusetzen aber noch schlimmer ist, dass damit ja die Durchimpfungsrate der Bevölkerung insgesamt sinkt und sie dadurch verwundbarer wird. „Frei von Schulmedizin“ kann ihre Gesundheit ebenso gefährden wie das religiöse Festhalten an „Frei von Trends“ generell. Es häufen sich in beängstigendem Ausmaß Befunde von dadurch ausgelösten Mangelerscheinungen.

Auch wenn die frisch konturiertenBetroffenen schockiert wären von dieser Aussage – sie sind Opfer gerade jenes „Convenience“-Trends geworden, gegen den sie sich doch so auflehnen. Denn Produkte „Frei von xy“ oder „Nein zu. . .“ sind vielfach nichts anderes als starke industrielle Marken geworden und sie ihre hörigen Lemminge.

DER AUTOR

Thomas Jakl (geboren 1965) ist Biologe und Erdwissenschaftler. Er arbeitete bis 1991 an der Uni Wien, wechselte dann ins Umweltministerium. Heute leitet er im Landwirtschaftsministerium die Abteilung Chemiepolitik, Risikobewertung und Risikomanagement. Er ist stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender des Umweltbundesamtes und war Vorsitzender des Verwaltungsrates der EU-Chemikalienagentur.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.04.2017)

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