Zeugnis für Politiker: Möglichkeiten und vertane Chancen

In Österreich hat eine „Wird-schon-werden“-Mentalität Einzug genommen.

Die vergangenen Tage erlauben es, der jetzigen Politik ein Zeugnis auszustellen. Kein makelloses, vielleicht nicht mal ein sehr gutes, aber ein Zeugnis. Was denn nicht alles möglich ist, wenn die Zeit drängt – und was alles dann doch nicht kommt, weil die Zeit drängt – oder wenn es kommt, dann doch unfertig da ist.

Wir sprechen von Chancen und vertanen Möglichkeiten; von entscheidenden Prüfungen, die wesentliche Auswirkungen auf den Herbst haben könnten; von ach so wichtigen Themen, die man auch in einem zweiten Regierungsprogramm kurz vor dem Abgesang doch wieder nicht geschafft hat.

Kann sich noch jemand an das vollmundige Versprechen des Abschaffens der kalten Progression erinnern? Doch sie wurde verschoben, nein, abgeblasen. Denn verschieben auf die nächste Legislaturperiode hat auch etwas von einem Glücksspiel: Man kann nicht sicher sein, was herauskommen wird. Und der Grund des Absagens war dann die Frage, wie man denn alles finanzieren soll.

Das klingt vernünftig. Wenn man nicht weiß, wie man einen Ausfall finanziert, muss man sich das Ganze noch einmal in Ruhe ansehen und Wege finden. Nicht erfreulich für viele Steuerpflichtige, aber staatstragend vernünftig.

Wobei man sich wohl erst später klar war, dass hier beide Regierungsparteien nicht vom gleichen Abschaffungsumfang sprechen, obwohl sie die Abschaffung der kalten Progression grundsätzlich vereinbart hatten. Kommunikationsfehler, oder so.

100 Millionen, oder so

Dann kam etwas, was gar nicht vereinbart und mit großem Getöse doch beschlossen wurde: die Abschaffung des Pflegregresses. Auch das ist grundsätzlich sinnvoll. Doch plötzlich war das mit der Finanzierung gar nicht mehr so wichtig. 100 Millionen werden schon reichen, oder so. Die kratzt man aus der Bebilderung der e-card zusammen, die für sich laut Schätzung des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger 18 Millionen kosten wird. Den neuen Vorsitzenden freut es, denn nun braucht er sich wegen der Finanzierung keine Sorgen mehr machen.

Wahlkampf sei Dank

Es wurde ja auf Bundesebene eben beschlossen, dass das kommen wird. Bis 2023 wird es bundesweit flächendeckend eine bebilderte e-card geben. Bei 21 dokumentierten Missbrauchsfällen zwischen 2014 und 2016, zumindest in Wien. Na, da wird schon noch was zusammenkommen, was als Gegenfinanzierung halten wird, oder so.

Und der neue Coup – ok, das waren primär die Sozialpartner. Wobei man ja auch nicht immer so genau weiß, wer auf welcher Bank sitzt. Jedenfalls gibt es eine tolle Einigung, die die Regierung mit 30.6. junktimiert hatte. Weil, wenn bis dahin kein Ergebnis gekommen wäre, hätte das auf Regierungsebene gelöst werden müssen – ein Schelm, der sich Böses denkt. Welche Regierung? In welcher Periode?

Aber zum Glück haben die Sozialpartner es geschafft, sich zu einigen. Zumindest auf einen Mindestlohn. Wahlkampf sei Dank. Das mit der Arbeitszeit wäre auch im Package gewesen – und auch im Junktim der Regierung. Aber seien wir nicht kleinlich. Besser ein zweifelhafter als gar kein Deal. Bis 2020 wird der Mindestlohn greifen, dann aber meist ohnehin bereits automatisch wegen der jährlichen KV-Erhöhungen. Das Thema Arbeitszeit, das soll dann in der nächsten Legislaturperiode, dann aber wirklich angegangen werden.

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass in den letzten Wochen eine „Wird-schon-werden?“-Mentalität Einzug gehalten hat. Man könnte es auch als unausgegorene, aktionistische Handlungen interpretieren. Mal sehen, was im Herbst so wird.

Mag. Stefan Schuster (* 1974)
ist Steuerberater in Wien.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.07.2017)

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