Gastkommentar

Minderheitsregierung: Wie es funktionieren könnte

Was die meisten Wähler bei allen Differenzen eint: Sie hoffen, dass in Österreich politisch wieder etwas weitergeht.

Um in Österreich endlich den Reformstau zu überwinden, bräuchte es: bessere Ideen statt überholten Ideologien; mehr Kompetenz, weniger Korruption; bessere Politik, für weniger Geld. Seit Jahrzehnten schon liegen ausgezeichnete Vorschläge für Reformen in diversen Schubladen. Aber es ändert sich nichts!

Man kann sagen, dies liege an der Dauer-Koalition aus SPÖ und ÖVP. Man kann aber genauso sagen, dass diese Parteien nun einmal das Land nach wie vor fest im Griff haben: Landeshauptleute, Bürgermeister und deren Einfluss auf Medien, Kultur, Wissenschaft, Bildung und sogar Justiz. Und natürlich auf die Wirtschaft.

Man kann also sagen, dass diese Koalition einerseits ein großes Problem ist, dass aber andererseits umfassende und nachhaltige Reformen des Landes nur möglich sein werden, wenn sie von den „Machtparteien“ SPÖ und ÖVP auf die eine oder andere Weise mitgetragen werden. Sonst gibt es bestenfalls ein bisschen ein Hin und Her, aber gewiss keine strukturelle Erneuerung.

Wirklich weitreichende Reformen bedürfen überdies meist sogar einer Zweidrittelmehrheit im Parlament. Dazu braucht es aber derzeit überhaupt drei Parteien.

Ausweg Minderheitsregierung

Sebastian Kurz liegt derzeit in den Umfragen deutlich voran. Es wird ihm allerhand zugetraut. Nicht zuletzt, weil er sich nach dem Abgang seines Vorgängers Reinhold Mitterlehner als ÖVP-Chef äußerst raffiniert verhalten hat; sowohl gegenüber seiner eigenen Partei als auch gegenüber dem Koalitionspartner. Er scheint immerhin zu wissen, was er will – und wie er es erreichen könnte.

Viele sagen schon, das einzige, was Kurz noch stoppen könne, sei eine Koalition aus SPÖ und FPÖ! Folgerichtig wird die ÖVP auch immer lauter vor dieser Konstellation warnen. Sollte Kurz jedenfalls seinen Vorsprung ins Ziel retten oder sogar noch ausbauen, könnte er versuchen, nach der Wahl eine Minderheitsregierung zu bilden und dann mit wechselnden Mehrheiten zu regieren.

So eine Regierung müsste von zumindest einer Partei geduldet werden. Kurz bräuchte also die Zusage mindestens einer Partei, wenigstens für einige Zeit auf ein Misstrauensvotum gegen ihn zu verzichten und seine Regierung nicht zu stürzen.

„Opposition ist Mist“, hört man immer wieder. Und natürlich sind mit Regierungsämtern neben Prestige, Gestaltungsmöglichkeiten und finanziellen Ressourcen auch noch andere Vorteile verbunden. Dennoch könnte eine Minderheitsregierung funktionieren, wenn folgende Punkte berücksichtigt werden:
?Erstens: Der potenzielle Kanzler muss eine umfassende und möglichst ausgewogene Reformagenda formulieren und zwar immer schon im Hinblick darauf, welche andere Partei(en) dabei als Partner für eine parlamentarische Mehrheit fungieren können.
?Zweitens: Sodann müsste er jenen Parteien entsprechend relevante Ministerien in der Regierung anbieten. Eine solche Regierung dürfte sich natürlich nicht aus Parteisoldaten zusammensetzen.
?Drittens: Mit der entsprechenden Partei sollte dann das jeweilige Reformvorhaben im Parlament beschlossen werden.
?Viertens: Das Gesamtpaket sollte schon von Beginn an – ähnlich einem Koalitionspakt – allen Beteiligten bekannt sein. Möglicherweise wäre das ein bisschen ein Kuhhandel: Zustimmung für dies als Gegenleistung für die Zustimmung zu jenem. Es könnte aber auch gewisse Ähnlichkeit mit der Schweizer „Zauberformel“ haben, gemäß der dort alle Parteien – nach einem bestimmten Schlüssel – in der Regierung vertreten sind. Jede Partei kann sich dann überlegen, ob sie grundsätzlich dabei sein möchte oder ob es für sie attraktiver ist, sich gegen so ein Reformprojekt zu positionieren.

Innerparteiliche Widerstände

Es wäre aber andererseits auch für alle Parteien – allen voran natürlich SPÖ und ÖVP – eine Chance, endlich teilweise irrationale innerparteiliche Widerstände gegen längst fällige Reformen zu überwinden.
?Fünftens: Eventuell ließe sich die direkte Demokratie quasi als der letzte Schiedsrichter in Streitfragen einsetzen – dort, wo absolut keine Einigung erzielbar erscheint.
?Sechstens: Schließlich könnte die Phase für die Umsetzung dieses Pakets auch zeitlich beschränkt werden. Auf eine Systemreform, könnte dann also wieder eine „normale“ Koalition folgen.

Was aber hätten jene Parteien davon, die nicht den Kanzler stellen? Gegenleistungen dafür könnten sein: Regierungsposten für Mitglieder dieser Partei oder für deren vorgeschlagene Kandidaten; inhaltliche Zugeständnisse; oder auch strategische Vorteile für die „duldende“ Partei: weil ja Juniorpartner einer Koalition bei den nächsten Wahlen meist nicht sehr gut abschneiden. Davon weiß seit 2002 die FPÖ ein Lied zu singen.

Riskantes Spiel für Kurz

Für Sebastian Kurz wäre es ein riskantes Spiel: Er könnte viel gewinnen aber auch verlieren. Dies aber mögen sich auch die anderen Parteien denken: Scheitert er, sind wir ihn vielleicht bald wieder los; hat er Erfolg, können längst fällige Reformen umgesetzt werden, deren Notwendigkeit ja kaum ein Politiker in Österreich leugnet.

Das käme letztlich auch nachfolgenden Regierungen zugute. Man denke nur an die Blockade-macht von Landeshauptleuten, Kammern und Parteiorganisationen und die damit verbundenen Kosten für die Steuerzahler. Gemäß vieler Umfragen könnte es sein, dass sich nach der Wahl überhaupt nur zwei Koalitionen ausgingen, nämlich Schwarz-Rot oder Schwarz-Blau.

Dann hätte Kurz alle Trümpfe in der Hand und könnte überdies gegenüber dem Bundespräsidenten darauf verweisen, dass dieser in seinem Wahlkampf eine Regierungsbeteiligung der FPÖ zumindest als problematisch bezeichnet hat; und dass andererseits Rot-Schwarz völlig ausgelaugt, zerstritten und perspektivenlos ist. Was wäre da naheliegender speziell bei einem deutlichen Erfolg der Kurz-ÖVP, als endlich etwas Neues zu probieren? Und Alexander Van der Bellen könnte immerhin sagen: „In meiner Amtszeit ist endlich etwas weitergegangen.“

Es wäre dies vielleicht das späte, aber endgültige Ende der Ära Kreisky: Fand doch bisher in Österreich fast niemand etwas dabei, dass die SPÖ seit 47 Jahren den Bundeskanzler stellt – mit einer Ausnahme, die man jedoch in der Öffentlichkeit sehr gekonnt als eine Art „Putsch“ hingestellt hat.

In Kreiskys Fußstapfen?

Der essenzielle Wesenskern jeder Demokratie, nämlich der regelmäßige Machtwechsel, ist in Österreich die absolute Ausnahme. Aber auch inhaltlich wirkt die Philosophie von Bruno Kreisky bis heute fort.

Ob Sebastian Kurz wirklich das Format hat, in Kreiskys Fußstapfen zu treten und eine neue Ära einzuläuten, bleibt fraglich. Es kann ihm aber zumindest zugetraut werden. Ein Schritt in diese Richtung scheint bereits gelungen, doch es fehlen noch viele weitere. Das Parlament beziehungsweise das Volk wäre der Schiedsrichter.

DER AUTOR


Christoph Bösch
(* 1962 in Wien) studierte Wirtschaftswissenschaften, ist Forstwirt und freier Publizist in Wien. Seit den 1990er-Jahren setzt er sich für eine liberale Gesellschaft und einen demokratischen Staat in Österreich ein. Unter anderem engagiert er sich für diese Ziele über die Initiative „Mehr Wahlrecht“ und über willwaehlen.at.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.09.2017)

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