Gastkommentar

Nein, Sozialdemokratie hat sich nicht überlebt!

Der Wind des konservativ-reaktionären Zeitgeistes bläst heute in ganz Europa so stark wie schon lange nicht mehr. Gerade deshalb: Fünf Gründe, warum sozialdemokratische Politik gegenwärtig wichtiger ist denn je.

Der Wind des konservativ-reaktionären Zeitgeists bläst der Sozialdemokratie in ganz Europa ins Gesicht. Vermeintlich neue Ideen – tatsächlich sind sie von vorgestern – werden als Veränderung und Reform verkauft und finden Gefallen in den Feuilletons der Qualitätspresse. Gleichzeitig wird die alte These von Ralf Dahrendorf bemüht, wonach sich die Sozialdemokratie überlebt habe, weil sie ihre Ziele erreicht hat. Dahrendorfs Ansatz ist heute aber noch realitätsferner als Anfang der 1980er-Jahre.

Zugegeben: Es ist, gemessen an Wahlergebnissen, keine Zeit sozialdemokratischer Triumphe. Dabei offenbart sich genau jetzt die Notwendigkeit sozialdemokratischer Lösungsansätze für die Probleme unserer Zeit. Das historische Mandat der Sozialdemokratie lässt sich an fünf zentralen Zukunftsfragen festmachen – ganz ohne Erstarrung: Verteilungsgerechtigkeit, ein gemeinsames Europa, Digitalisierung, Klimawandel und die Demokratie.

1. Wachsende Ungleichheit ist Gift für den gesellschaftlichen Zusammenhalt: Die Organisation Oxfam rechnet es vor: Ein Prozent der Weltbevölkerung besitzt mehr als die restlichen 99 Prozent zusammen. Zahlen, die der Sozialdemokratie mehr als genug Berechtigung geben. Zumal die Forderung nach fairer Verteilung von Reichtum, Besitz und Chancen an der Wiege der Sozialdemokratie stand. Und nach wie vor geht die Schere, auch in den Industriestaaten und in Österreich, auseinander.

Um diesem Trend etwas entgegenzusetzen, braucht es einen gut umverteilenden Sozialstaat. Auch bei uns leisten die Vermögenden einen immer geringeren Beitrag, gemessen an ihren Möglichkeiten. So werden Erbschaften und Vermögen in Österreich kaum besteuert, was im internationalen Kontext eher unüblich ist.

Zu stark sind die Interessen der Besitzenden, lieber im Status quo zu verharren. Ungleichheit bei Besitz und Vermögen bedeutet auch Ungleichheit an Chancen. Daher ist die Verteilungsfrage nicht nur eine Frage von Geld, Vermögen und gerechten Steuern, sondern eine viel grundlegendere: Jene, die kein nennenswertes Vermögen haben, brauchen den starken Staat viel nötiger als jene mit dicker Brieftasche. Ein gutes öffentliches Bildungssystem beginnend bei den Kindergärten, ein Gesundheitssystem, das Spitzenmedizin für alle verfügbar macht, umfassende Sicherheit und eine funktionierende Verwaltung sind im Interesse aller, besonders aber der sozial Schwächeren.

2. Ein soziales Europa ist die Antwort auf Nationalismus:
Die Krise Europas ist nicht nur eine Institutionenkrise, sie geht viel tiefer. Die Wahlerfolge konservativer Populisten und nationaler Egoismus fressen das Projekt Europa von innen auf. Dennoch kann das geeinte Europa die Antwort auf die großen Herausforderungen sein.

Wenn wir den negativen Auswirkungen der Globalisierung entgegentreten wollen, werden wir ein starkes Europa brauchen. Ein starkes Europa mit einer Dimension, das Antwort gibt auf die Jugendarbeitslosigkeit und das den internationalen Konzernen mutig entgegentritt. Europa muss dafür aber positiv weiterentwickelt werden – weg von der puren Freihandelszone hin zum sozialen Binnenmarkt! Ein Mehr an Europa muss auch ein Mehr an Demokratie heißen. Den Konservativen reicht eine Freihandelszone, die Populisten wollen Europa zerstören, nur die Sozialdemokratie entwickelt Europa weiter.

3. Die Digitalisierung braucht eine soziale Dimension: Die Digitalisierung bringt eine grundlegende und alle gesellschaftlichen Bereiche umfassende Veränderung, sie wirft das bestehende Wirtschaftssystem, die heutige Arbeitswelt und das soziale Zusammenleben komplett durcheinander. Internet der Dinge, 3-D-Drucker, Crowdworking, Prekarisierung, Arbeitswelt 4.0 sind einige Schlagwörter einer Zukunftsrealität, an deren Anfang wir erst stehen. Diese Veränderung bringt Risken und Gefahren, sie bringt aber auch Herausforderungen und Chancen.

Die Sozialdemokratie ist und war niemals fortschrittsfeindlich – im Gegenteil. Wir wollen Zukunft gestalten, unseren Wohlstand gerecht verteilen, eine soziale Absicherung garantieren und den Standort Österreich sichern. Egal, in welche technologische Richtung sich die Zukunft entwickelt, eines ist klar: Es geht immer darum, Arbeitsverhältnisse so zu gestalten, dass sie den Einzelnen nicht kaputt machen und insgesamt faire wirtschaftliche Rahmenbedingungen bieten.

4. Den Klimawandel sozial gerecht bekämpfen: Durchschnittstemperatur und CO2-Emissionen steigen laufend an, die drei heißesten Sommer seit Beginn der Messungen vor 250 Jahren waren 2003, 2015 und 2017. So weit die Fakten. Der Klimawandel ist spürbare Realität. Die Folgen sind ebenfalls bekannt: Die durch Unwetter entstandenen Kosten belaufen sich allein für Österreich auf rund eine Milliarde Euro pro Jahr. Mit dem Klimawandel einher gehen drohende globale soziale Verwerfungen. Die Verteilung der Ressourcen ist nicht nur eine Frage der Umweltpolitik, sondern auch eine der sozialen Gerechtigkeit. Die Folgen der Umweltzerstörung gehen zulasten der Ärmsten der Weltbevölkerung. Es sind die unteren sozialen Schichten, die von Luftverschmutzung und gesundheitsschädlichen Arbeitsverhältnissen stärker betroffen sind.

Klima- und Umweltschutz stehen nicht in Widerspruch zu Wohlstand und Wirtschaftswachstum. Neue Green-Jobs, ein nachhaltiges Wirtschaftssystem und effiziente Ressourcennutzung sind möglich. Dafür braucht aber der konsumfanatische Turbokapitalismus Grenzen und Regeln.

Wer nicht will, dass eine gesunde Umwelt, intakte Natur und schadstofffreie Nahrung nur wenigen Wohlhabenden zugänglich sind, wird schnell erkennen, dass Klima- und Umweltpolitik eng mit der sozialen Frage verknüpft sind. Nur die Sozialdemokratie kann Klimaschutz und ökologisches Denken mit ökonomischem Handeln und sozialer Gerechtigkeit verbinden.

5. Demokratie leben: Die Krise der Demokratie beschreibt die Verschiebung weg von tatsächlicher politischer Mitbestimmung hin zu inszenierten, von PR-Strategen geplanten Scheindebatten, die von Worthülsen geprägt sind und Wahlen auf ihren formellen Charakter reduzieren. Wir sehen das anders: Die Sozialdemokratie versteht Politik als antizipatives Gestalten und aktives Arbeiten an Zukunftskonzepten und zielt auf die Umsetzung von Lösungen ab. Dafür muss man die Menschen begeistern. Insofern will die SPÖ Demokratie weiterentwickeln, sie zur Plattform für Engagement, Diskurs und Mitbestimmung machen.

All dies braucht dringend eine sozialdemokratische Dimension: Denn die Errungenschaften der Arbeiterbewegung sind nicht mehr selbstverständlich, sondern umkämpft.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

DER AUTOR




Mag. Andreas Schieder
(geboren 1969 in Wien) studierte Volkswirtschaft an der Universität Wien. Seit 2006 Abgeordneter zum Nationalrat; 2007 bis 2008 internationaler Sekretär und außenpolitischer Sprecher der SPÖ. 2008 bis 2013 Staatssekretär für Finanzen. Seit 2013 Klubobmann der Sozialdemokratischen Parlamentsfraktion und stellvertretender Bundesparteivorsitzender der SPÖ. [ APA ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.11.2017)

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