Replik

Wer Zentralismus sät, wird Separatismus ernten

Die Gegner des Regionalismus und Vertreter des nationalen Zentralismus sind die eigentlichen Sargnägel einer Einigung Europas.

Bei allem Respekt vor dem Journalisten Oliver Grimm: Sein Leitartikel in der „Presse“ vom 28. Oktober „Der europäische Irrweg der Separatisten“ kann nicht unwidersprochen bleiben.

Um eine offenbar extrem zentralistische Position zu untermauern, werden Dinge vermischt, die nichts miteinander zu tun haben: Brexit, Nationalismus, Revolution, Separatismus und Regionalismus werden undifferenziert in einen Topf geworfen. Solche Positionen sind genau der Nährboden dafür, dass in manchen Bereichen Europas der Regionalismus Wege geht, die seinem eigentlichen Sinn widersprechen.

Richtig verstandener Regionalismus ist nämlich genau das Gegenteil von Separatismus: Er hat zum Ziel, dass sich historisch gewachsene Regionen im Gesamtstaat wohlfühlen, kooperativ am Gesamtstaat mitwirken und ihn dadurch stärken. Dazu gehört aber, dass die Regionen politisch und finanziell in die Lage versetzt werden, die Bedürfnisse und Anliegen ihrer Bevölkerung weitgehend autonom zu erfüllen.

Die regionalen und lokalen Vertreter wissen am besten, was für ihre Region gut ist. Ein Minister in einer Zentralregierung kann gar nicht einschätzen, wie einer entlegenen Region am besten geholfen werden kann. Das gilt auch für viele Medien, die offensichtlich das Geschehen in den zentralen Hauptstädten zum Maß aller Dinge erheben. Ich musste leider immer wieder die Erfahrung machen, dass das Verständnis für das, was in den Bundesländern vor sich geht, in Wien gegen null tendiert und auch keine Bereitschaft besteht, sich damit auseinanderzusetzen. Die Bundesländer bestenfalls als willkommene Urlaubsdestinationen zu sehen, zeugt von einer ungeheuer überheblichen Geringschätzung von zwei Drittel der österreichischen Bevölkerung durch die Zentraleliten.

Es ist auch volkswirtschaftlicher Wahnsinn, wenn alle Bürger mit ihren Anliegen in die Zentralministerien fahren müssen, während die Wege zu ihren lokalen oder regionalen Institutionen und Entscheidungsträgern viel kürzer sind und die Entscheidungen wesentlich rascher gefällt werden können. Auch das immer wieder vorgebrachte Argument der Kosten der Regionalverwaltungen ist naiv, müsste doch deren Arbeit von der Zentralbürokratie erledigt werden. Das demokratiepolitisch wichtige Argument der Bürgernähe wird zusätzlich völlig außer Acht gelassen.

Das war der Grund, warum man im Reformvertrag von Lissabon das Subsidiaritätsprinzip gestärkt hat, welches bedeutet, dass die Ebenen unter dem Zentralstaat möglichst viel selbst entscheiden und erledigen sollen.

Es ist völlig falsch, zu behaupten, die Regionalförderung (Kohäsionspolitik) der EU sei nur zur Befriedung der Regionalpräsidenten und Landeshauptmänner gedacht. Wer die hohen sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen, politischen Unterschiede der europäischen Regionen nur einigermaßen kennt, wird sich darüber nicht abfällig äußern. Es geht darum, den Menschen in den Regionen, vor allem in den armen und ärmsten, zu helfen, sie – wenn auch oftmals nur sehr langsam – an den europäischen Durchschnittsstandard heranzuführen.

Fehler gibt es auf allen Ebenen

Wir dürfen nicht vergessen, dass sich vor allem der österreichische Kommissar Johannes Hahn, als er für die EU-Regionalpolitik verantwortlich war, überall anerkannte Verdienste erworben hat.

Gerade der im Prinzip gut funktionierende kooperative Föderalismus in Deutschland und in Österreich zeigt, dass bei einer gleichberechtigten Kooperation der Gebietskörperschaften auf Augenhöhe der gesamte Staat nur profitiert und stabil ist. Fehler, Misswirtschaft und Skandale passieren auf allen Ebenen, in föderalistischen, dezentralen und zentralistischen Staaten. Sie liegen in der persönlichen Verantwortung der Agierenden und nicht am politischen System.

Die wenigen wirklich separatistischen Bestrebungen in Europa sind nicht miteinander vergleichbar und haben jeweils ihre eigene Geschichte. Die historische Betrachtung ist vielleicht mühsam, sie zu vernachlässigen führt aber geradewegs zu vereinfachenden, irrigen Urteilen.

Der Fall Katalonien

Im Fall Katalonien hatte man sich 2006 bereits auf ein Autonomiestatut mit der Zentralregierung geeinigt, das spanische und das katalonische Parlament hatten zugestimmt. Dann klagten die zentralistischen Konservativen dagegen beim Verfassungsgerichtshof, der das Statut 2010 aufhob. Obwohl die Enttäuschung der Katalanen groß war, gab es lange keine Bestrebungen zur Abspaltung. Man kämpfte weiter für eine möglichst hohe Autonomie innerhalb Spaniens.

Madrid ging genau in die gegenteilige Richtung. Als die katalonische Regierung, die stets einen überdimensionalen finanziellen Beitrag in den gemeinsamen spanischen Topf einzahlte, über eine Neuausrichtung des innerstaatlichen Finanzausgleichs verhandeln wollte, wies Madrid jede Bereitschaft zu Gesprächen darüber zurück. Im Gegenteil, die Schrauben gegenüber Katalonien wurden immer fester angezogen, jede Dialogbereitschaft fehlte. Erst da wurden die Stimmen in Katalonien lauter, die keine Zukunft mehr in Spanien sahen. Der Teufelskreis begann sich zu schließen. Wer Zentralismus sät, wird Separatismus ernten!

Zu Recht hat die EU den Katalonien-Konflikt als innerspanische Frage bezeichnet. Dann aber bitte keine einseitige Parteinahme für die korruptionsgeschüttelte Zentralregierung Spaniens, sondern der dringende Appell an alle Konfliktparteien, eine friedliche Lösung zu suchen. Ihre Unbefangenheit hat die Staatengemeinschaft ja schon lange etwa bei der Abspaltung des Kosovo oder Montenegros verloren. Tatsache ist, dass mit zweierlei Maß gemessen wird.

Europa – von unten getragen

Europa braucht starke Regionen, weil es nicht von oben verordnet werden kann, sondern nur erfolgreich überlebt, wenn es von unten getragen wird. Es braucht Regierungen der Mitgliedstaaten, die ihre in Brüssel selbst gefassten Beschlüsse auch zu Hause vertreten und nicht auf die Brüsseler Bürokratie schimpfen.

Regional- und Lokalpolitiker haben derzeit auf europäischer Ebene keine Entscheidungsmöglichkeiten. Die Gegner des Regionalismus, die missionarischen Vertreter des nationalen Zentralismus sind die eigentlichen Sargnägel einer europäischen Einigung.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR

Univ. Prof. Dr. Franz Schausberger (*1950 in Steyr), studierte Philosophie, Pädagogik und Geschichte an der Universität Salzburg. Seit 2014 Prof. für Neuere Geschichte an der Uni Salzburg. Von 1996 bis 2004 Landeshauptmann von Salzburg. Mitglied des Europäischen Ausschusses der Regionen. Vorsitzender des Instituts der Regionen Europas (IRE). Publikationen zur neueren Geschichte Europas und Österreichs.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.11.2017)

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