Gastkommentar

Wer sind die besseren Deutschen?

Die Erste Republik, der tote Bundeskanzler, die Opferrolle des Engelbert Dollfuß. Eine Tragödie über „Deutschösterreich“.

Nach dem Ersten Weltkrieg dauerte es geraume Zeit, bis eine Entscheidung über die Zukunft der Österreicher getroffen werden musste. Die Entente der Sieger sowie bösartige Nachbarstaaten hatten eine Rückkehr Österreichs zum Habsburgerreich verboten.

Es blieb nur ein einziger Weg aus dem Dilemma: der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich von der Nordsee bis zur Adria. Und so verkündete am 12. November 1918 die Provisorische Nationalversammlung im Wiener Parlament die Gründung eines neuen Staates:

„. . . Deutschösterreich ist eine demokratische Republik . . . Deutschösterreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik . . . Die k. u. k. Ministerien werden aufgelöst . . . Deutschösterreicher sind nun ein Volk, ein Stamm und eine Sprache, vereinigt nicht durch Zwang, sondern durch freien Entschluss . . . Heil Deutschösterreich!“

Schlussendlich benötigte man Staatssymbole. Man beschloss, auch weiterhin die Staatsfarben Rot-Weiß-Rot zu verwenden und beauftragte den „Wappen-Hofrat“ Rudolf Penner mit der Vorstellung einer am Alten Adler orientierten Variante des Doppeladlers.

Das neue Federvieh trug eine Mauerkrone und Weizenähren in den Krallen.

Kaiserhymne mit neuem Text

Die „umkämpfte Republik“ war zum realpolitischen Hintergrund geworden. Der Bürgerkrieg klopfte an die Tür. Aber die Entente-Alliierten blieben stur und wichen von ihrem Anschlussverbot auch in der Folge nicht ab. Nur zögerlich stattete die Republik ihre eigene Künstlerschaft mit Aufträgen aus. Der populäre Kärntner Priester und Künstler Ottokar Kernstock empfahl, die Melodie der alten Kaiserhymne mit einem neuen Text zu verbinden: „Sei gesegnet ohne Ende, Deutsche Heimat wunderhold . . . Vaterland, wie bist du herrlich! Gott mit dir, Deutschösterreich!“

Nun entsprang die Österreich-Bejubelung keineswegs einem Mangel an Wir-Gefühl unter den einfachen Menschen. Man hatte einen zeitgemäßen k. u. k. Liberalismus nie gelernt, wusste also die Aggressionen eines Bürgerkrieges auch nicht zu prophezeien. Das verstand allein der gebürtige Oberösterreicher Adolf H., ein Berufskrimineller, der auch die Bedeutung von Terrororganisationen wie SS und SA über alle Grenzen hinweg begriff.

Telefonhütterln in ganz Österreich explodierten serienweise, in jeder Nacht gab es landesweit Schießereien, Österreich wurde zur Drehscheibe für die Bewaffnung des Balkan und der Levante.

Aber noch ein weiterer Schwerpunkt der Aggressionen betraf die Universitäten. Von Adolf H. erhielten seine Gefolgsleute den Auftrag, Professoren und Farbstudenten zu „bestrafen“, auch wenn sie erprobte Deutschnationale gewesen waren.

Man hatte ihm doch während seiner Wiener Zeit die Aufnahme in die Kunstakademie durch Professoren-Veto verweigert. Mittlerweile formierten sich die alten Garden neu: Burschenschaften, Corps (Korps), Cartellvereine, Pennalien. In München nahm die Österreichische Legion Fahrt auf, der katholische CV wiederum führte den DU-Comment verpflichtend ein; jeder begrüßte jeden mit Du.

Und da passierte es: Just die bieder-konservative Wiener CV-Studentenverbindung Franco-Bavaria stellte auf der 51. Cartellversammlung des CV in Regensburg einen brisanten Antrag: Jeder CVer müsse – bis hin zur Generation der Großeltern – belegen, keine jüdischen Vorfahren zu haben. Der Antragsteller der Franco-Bavaria hieß Engelbert Dollfuß, war Philistersenior – und sein Antrag wurde abgelehnt.

Keine politische Hausmacht

Wer aber war der biedere Bauernbunddirektor ohne politische Hausmacht? Geboren im niederösterreichischen Texing im Mostviertel als uneheliches Kind, wollte Dollfuß zuerst Priester werden, meldete sich nach den Schüssen von Sarajewo aber als Freiwilliger zum Wehrdienst. Etwas später gelang dem Politikbegeisterten mit viel Glück der große Sprung an die christlichsoziale Spitze.

Das Arierparagrafen-Intermezzo wäre jedoch nur als unwichtige Fußnote in die Geschichte eingegangen, hätte der einen Meter und einundfünfzig Zentimeter kleine Dollfuß nicht außenpolitisch dilettiert. Er ließ sich zum Bundeskanzler und Außenminister in einem bestellen – was den Westen und die USA sowie den italienischen Faschistenchef Benito Mussolini verärgerte. Jetzt hatten die Nazis freie Fahrt, Joseph Goebbels organisierte den ersten großen Exodus von Juden.

Kaum in Berlin eingezogen, erklärte H. das kleine Österreich zum Hauptfeind des Großdeutschen Reiches – die Österreicher seien erbarmungslos anzugreifen. Österreich war für H. „verjudet, korrupt und bigott“ und sein Landsmann Engelbert Dollfuß Gegner Nummer eins. Was wiederum den Papst in Rom auf den Plan rief.

Hoffnung für Katholiken

Der „politische Katholizismus“ wurde zur Theologie der kleinen Leute und war keinesfalls unaktuell. Ganz im Gegenteil bedeutete er die Hoffnung vieler Katholiken in ganz Europa. Daher entschloss sich Dollfuß als treuer Katholik und Führer eines katholischen Landes, eine neue Verfassung ausarbeiten zu lassen, die ein fantastischer Mix aus religiösem Pathos, Urburschentum und Deutschtümelei sein sollte: „Im Namen Gottes, des Allmächtigen, von dem alles Recht ausgeht, erhält das österreichische Volk einen christlichen deutschen Bundesstaat auf ständischer Grundlage diese Verfassung.“

Ein, zwei oder sogar noch mehr Deutschlande also? Die Frage ist bis heute nicht beantwortet. Denn am 25. Juli 1934 drangen Angehörige der SS-Standarte 89 – in Bundesheeruniformen – in das Kanzleramt in Wien ein, Otto Planetta zog seine Pistole und schoss auf den Kanzler. Die Bitte des Sterbenden nach einem Priester wurde abgelehnt. Die Reichsregierung in Berlin leugnete jede Verwicklung in das Attentat.

Und der Nachfolger von Dollfuß ließ tausendfach das politische Testament des „Heldenkanzlers“ verbreiten. Darin hieß es:

„Heute wollen wir den christlichen, deutschen Staat Österreich . . . wir sind so deutsch, so selbstverständlich deutsch, dass es uns überflüssig vorkommt, es eigens zu wiederholen . . . wir überlassen aber das Urteil der kommenden Generation, wer schließlich dem Deutschtum besser gedient haben wird . . . ich habe bei allen Gelegenheiten, im Ausland zu reden und zu werben, niemals vergessen zu sagen: Wir sind Österreicher und ein deutsches Land . . . Ich kann nur eines sagen . . . wir sind Deutsche . . . Das einzige Ziel unserer Außenpolitik kann nur sein, die Unabhängigkeit nach allen Seiten zu sichern und dazu beizutragen . . . dass niemand anderer als wir selbst die Entscheidung zu treffen haben.“

„Und für uns gibt es keinen Anschluss, weil wir wissen, dass der Anschluss nichts anderes bedeutet, als Österreich zu einer Kolonie von Preußen-Berlin zu degradieren.“

DER AUTOR

Hans Magenschab (geboren 1939 ) studierte Rechts- und Politikwissenschaften. Er war Journalist bei mehreren Printmedien („Furche“, „Wochenpresse“, „Kurier“) und dem ORF. Er war Pressechef der Präsidentschaftskanzlei und Sprecher von Bundespräsident Thomas Klestil bis zu dessen Tod, 2004. Verfasser zahlreicher Sachbücher.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.11.2017)

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