Gastkommentar

Die Staatsreform als Lackmustest

Eine erfolgreiche Staatsreform ist also das erste Mal in erreichbare Nähe gerückt. Die Vorschläge liegen auf dem Tisch.

Die Staatsreform ist eine ungelöste Aufgabe seit 1920. Die unter Schmerzen geborene Bundesverfassung war ein Torso, wichtige Teile fehlten: Grundrechte, Gemeindeverfassung, Schulverfassung. Diese Hausaufgaben sind zum Teil noch heute nicht gemacht. Inzwischen sind neue Probleme dazugekommen.

Wir wissen spätestens seit dem EU-Beitritt, dass wir dringenden Regelungsbedarf haben. Die Aufgabenverteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden ist überholt. Finanzverfassung und Finanzausgleich sind von Grund auf neu zu regeln. Die Doppelgleisigkeiten in den Verwaltungen sind unnötig. Eine Neuregelung für den Bundesrat ist überfällig. Die Einführung einer Schuldenbremse, die Personalisierung des Wahlrechts und die sachgerechte Stärkung der direkten Demokratie sind Verfassungsaufgaben, die sich die künftigen Regierungsparteien vorgenommen haben. Am 14. 11. legte eine Arbeitsgruppe aus der Mitte der Bürgergesellschaft (verein.respekt.net) neue Vorschläge unter dem Titel „Österreich braucht mutige Reformen für einen modernen Bundesstaat!“ vor. Eine genaue Betrachtung des Reformprogramms zeigt aber: So wird der Bundesstaat abgeschafft. Aber anderes deutet in die richtige Richtung.

Warum das Scheitern?

Noch jede Bundesregierung hat die Staatsreform versucht. Bei allen Reformbemühungen war ich bis 2008 dabei. 1992–1999 in den Arbeitsgruppen zur Umsetzung des Perchtoldsdorfer Abkommens zwischen Bundesregierung und Landeshauptleutekonferenz zur Neuordnung der Aufgabenverteilung. Die Regierung scheiterte. 2003–2005 arbeitete der Österreich-Konvent. Die Große Koalition unter Gusenbauer und Molterer begann 2007 mit der Umsetzung der Konventsergebnisse. Sie hatte noch die Verfassungsmehrheit im Nationalrat.

Die kleine Arbeitsgruppe Staatsreform legte zwei Berichte vor. Der erste wurde umgesetzt und führte zur Entrümpelung der Verfassung, zur Neuordnung wichtiger Fragen der Gemeindeselbstverwaltung, und zur sehr erfolgreichen neuen Verwaltungsgerichtsbarkeit. Der zweite Bericht sah eine Vereinfachung der Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern vor, eine Reform des Bundesrats und anderer Staatsorgane, eine Stärkung der Rechte der Länder und eine flexiblere Gemeindeselbstverwaltung. Die Regierung Gusenbauer/Molterer konnte sich aber nicht zur Reform entschließen. Zuletzt sind die Bemühungen der Regierung Kern/Mitterlehner versandet.

Warum dieses permanente Scheitern? An Vorschlägen mangelt es nicht – alles liegt auf dem Tisch. Sorgfältig ausformuliert, mit allen politischen Kräften und Experten in Bund, Ländern, Gemeinden und Sozialpartnern durchgekaut, in erstklassigen Gesetzesentwürfen begründet. Ursache des Scheiterns ist der fehlende politische Wille zur Umsetzung. Die Gründe sind mir klar. Die Große Koalition war sich in Grundsatzfragen nicht einig: Aufgaben und Stellung der Bundesländer, Ordnung der Finanzströme, weniger oder mehr Bürokratie (das sind die wahren Machtfragen!), ökosoziale Marktwirtschaft oder Hochsteuerstaat, Behebung des strukturellen Budgetdefizits durch Sparen oder neue Steuern. Darüber hinaus waren alle Regierungen letztlich zentralistisch ausgerichtet und zu keiner neuen ausgewogenen Aufgabenverteilung bereit. Ihre Vorschläge bedeuteten immer: mehr Geld und Macht dem Bund, weniger Geld und Aufgaben für die Länder. Nun gibt es in Österreich nur dann eine grundlegende Staatsreform, wenn die entsprechenden Vorschläge Zweidrittelmehrheiten in National- und Bundesrat und eine Mehrheit im Volke finden – jede Gesamtreform muss zuerst vom Parlament beschlossen und dann in einer Volksabstimmung gebilligt werden. Also gegen die Länder geht überhaupt nichts.

Nötige Mehrheit im Parlament

Alle von wem immer vorgelegten Vorschläge müssen daher vermessen werden: Gibt es dafür den politischen Willen – also eine einstimmige Bundesregierung und Konsens mit den Ländern, eine Mehrheit im Parlament, und gibt es eine Mehrheit im Volk?

Die sich abzeichnende Regierung ist in vielen Verfassungsfragen homogen, also einer Meinung. Auch die Landeshauptleute sind reformbereit. Das ist neu, ein politischer Wille zur Staatsreform könnte sich also bilden. Holt die Regierung die Neos ins Boot, gäbe es die nötige Mehrheit im Nationalrat. Die Neos teilen viele der „bürgerlichen“ Grundwerte und wollen bei Verhandlungen auf Kuhhändel verzichten.

Im Bundesrat fehlt allerdings noch die Zweidrittelmehrheit – ÖVP und FPÖ haben zusammen 36 Mitglieder, es fehlen fünf zur nötigen Mehrheit. Das könnte sich ändern. Am Bundesrat wird es letztlich nicht scheitern. Eine erfolgreiche Staatsreform ist also das erste Mal in erreichbare Nähe gerückt. Die Vorschläge liegen auf dem Tisch. Unter den zuletzt erwähnten neun Veränderungen deuten sechs in die richtige Richtung: Konzentration der Verwaltung bei den Ländern, Baustelle Bundesrat, Steuerung aller Krankenanstalten durch den Hauptverband der Sozialversicherungen, Überprüfung der Strukturen von Bezirksverwaltungsbehörden und Gemeinden nach steirischem Muster, Transparenz der gesamten Finanzverwaltung.

Drei der Vorschläge machen aber aus dem Bundesstaat einen zentralisierten Einheitsstaat. Ohne Gesetzgebungsrecht, ohne eigene Finanzen, ohne Verordnungsrecht, ohne Verfügung über das eigene Vermögen und die eigenen Bediensteten sind die Bundesländer abgeschafft. Dafür gibt es keinen Anlass. Die Länder haben sich über Jahrhunderte zur Heimat entwickelt, einen Sitz im Leben und ihre Aufgaben mindestens ebenso gut erfüllt wie der Bund die seinen. Eine Mehrheit für ihre Abschaffung gibt es in keiner Regierung, in keiner der Kammern des Parlaments, am wenigsten im Volk.

Umsetzbare Lösungen

Die Lösungen der Staatsreformkommission im zweiten Bericht vom 13. 3. 2008 zur Umsetzung des Österreich-Konvents sind sachangemessener und umsetzbar:
• Eine neue Verteilung zwischen Bund und Ländern ersetzt deren fast 200 Kompetenzen durch 17 Aufgabengebiete für den Bund, 16 für die Länder, für neun sind Bund und Länder gemeinsam zuständig.
• In einem sachgerechten Aufgabentausch wandert manche Aufgabe zum Bund, manche zu den Ländern – das derzeitige Gleichgewicht bleibt erhalten.
• Eine kostengünstige Neuordnung des Bundesrats, dessen wesentliche Rechte erhalten bleiben. Landtagsabgeordnete sollten ihm im Doppelmandat angehören. Seine Funktionen werden nach deutschem Vorbild völlig neu geordnet.
• Beseitigung der Parallelverwaltungen auf dem Gebiet von Schule, Sozialwesen, Gesundheitswesen.
• Die Stärkung der Rechte der Länder durch Beschränkung der unmittelbaren Bundesverwaltung.

Vieles berechtigt zur Hoffnung, dass das Wahlergebnis eine Neue Republik bewirkt. Das politische System Österreichs steht vor einer Metamorphose. Die Parteien stecken schon mittendrin. Ein mutiges Anpacken der Staatsreform wird dabei zu einem Lackmustest.

DER AUTOR

Univ.-Prof. Andreas Khol (* 1941) studierte Rechtswissenschaften in Innsbruck, habilitierte sich in Verfassungsrecht. Von 2000 bis 2002 war er Klubobmann der ÖVP im Nationalrat und von 2002 bis 2006 Präsident des Nationalrats. Von 2005 bis 2016 Obmann des Österreichischen Seniorenbundes, 2016 Bundespräsidentschaftskandidat der ÖVP.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.11.2017)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.