Gastkommentar

Schicksalswahl in Ungarn

Um der Orbán-Regierung effektiv den Kampf anzusagen, brauchte das Land eine breite und vereinte Opposition.

Es geht um alles oder nichts. So könnte man das Motto der ungarischen Demokraten vor der sich nähernden Parlamentswahl zusammenfassen. Wenn die Ungarn in drei Monaten zu den Urnen gehen, entscheiden sie nicht nur über die Zusammensetzung des 199-köpfigen Parlaments, sondern auch über die langfristige Zukunft ihres Landes. Die Wahl ist zwischen einem stark von autoritären Zügen charakterisierten illiberalen Regime und einer weiterhin zersplitterten, jedoch die parlamentarische Demokratie in den Vordergrund stellenden Opposition.

Vor fast 30 Jahren entschied sich Ungarn nach vier Dekaden Sozialismus – mit all ihrer Vorteilen und Defiziten – für den Weg der liberalen Demokratie. Der Versuch, das Land im Klub der westlichen Demokratien zu etablieren, ist jedoch nach 20 Jahren in eine Sackgasse geraten. Seit der Machtübernahme Viktor Orbáns 2010 wird ein mit der Wende begonnener politischer und gesellschaftlicher Grundkonsens ernsthaft bedroht und mit der Unterstützung einer Minderheit (etwa zwei Millionen Wähler) in einen autoritären Staat umgebaut.

Fehlende Gewaltenteilung

Das Orbán-System ist gekennzeichnet durch fehlende Gewaltenteilung, eine von der Regierungspartei im Alleingang verabschiedete Einparteienverfassung, omnipräsente nationalistische Rhetorik, stark ausgeprägten Nepotismus, Schikanierung der Zivilgesellschaft, Dominanz der rund um die Uhr mit Fake News operierenden regierungsnahen Medien und ein die Regierungspartei Fidesz unverhältnismäßig favorisierendes Wahlsystem. Ebenso Teil des Regimes ist die Einschüchterung von Kritikern – politischen Akteuren, Journalisten, Kunstschaffenden und einfachen Bürgern –, die oft ihre konträre Meinung zur Regierung unterdrücken, um nicht als Landesverräter bezeichnet zu werden oder die berufliche Zukunft aufs Spiel zu setzen.

Die Orbán'sche Regierungsform ist durch das Prinzip „Divide et impera“ für die tiefe Spaltung der Gesellschaft verantwortlich, teilt diese in Gute (christlich-bürgerlich-nationale Gesinnung) und Böse (gemäßigte Konservative, Linke, Liberale) ein und versucht, die politischen Gegner mithilfe vom Rechnungshof teilweise mit drakonischen Strafen aus dem Feld zu räumen (Fall Jobbik). Das gleiche System ermöglicht einem den Holocaust leugnenden Antisemiten regelmäßig Auftritte im regierungsfreundlichen Echo TV, einem Kanal, der von Premier Orbán als ein für die „christlichen, bürgerlichen und nationalen“ Werte zuständiger Sender gefeiert wird.

Ideologische Differenzen

Um diesem Regime den Kampf effizient anzusagen, brauchte Ungarn eine breite und vereinte Opposition, die die scharfen ideologischen Differenzen in den Hintergrund stellt und laut Machiavellis Lehre „Der Zweck heiligt die Mittel“ vorgeht. Die heute noch immer als surreal erscheinende, jedoch aus wahlsystemischen Gründen unverzichtbare Koalition sollte von Sozialisten über Liberale und Grüne bis hin zu den Jobbik-Wählern reichen.

Jedoch herrscht derzeit in den Reihen der fragmentierten und untereinander äußerst zerstrittenen Regierungskritiker Chaos. Es wäre also Zeit für diese Akteure, kurzfristige Parteiinteressen in den Hintergrund zu drängen, das Gemeinwohl der Ungarn in den Vordergrund rücken zu lassen.

Entweder bilden Ungarns oppositionelle Kräfte eine Wahlkoalition und erkennen, dass es sich bei der kommenden Wahl um eine Schicksalswahl handelt, oder das Land wird sich endgültig von der liberalen Demokratie verabschieden. Sollte Ungarn vom Pfad des 89er-Grundkonsenses abweichen, würde dafür die Verantwortung nicht allein Orbán, sondern auch seine Opposition tragen.

Balazs Csekö (geb. 1986) studierte Politikwissenschaft an der Uni Wien. Der gebürtige Ungar arbeitet als freier Journalist in Wien.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.01.2018)

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