Gastkommentar

Im Eiltempo unterwegs zur Verbotsgesellschaft

Prohibition auf dem Praterstern: Verbote dienen nicht der Volksgesundheit, sondern ausschließlich der sozialen Kontrolle.

Wien verhängt erstmals ein Alkoholverbot im öffentlichen Raum, das ausgerechnet am 1. Mai in Kraft treten soll. Ein Verbot, um jene 150.000 Menschen zu schützen, die den sozialen Brennpunkt auf dem Praterstern täglich frequentieren. Die angedrohten Strafen von 70 bis 700 Euro bei Zuwiderhandlung sind eher als PR-Gag zu verstehen – auf gut Wienerisch: als „Schmäh“.

Jede Gesellschaft definiert Normen und legt Grenzen fest, so viel ist klar. Im zivilisatorischen Konsens wird ein Kodex erstellt und dient als Richtschnur für das erwünschte Verhalten. „Soziale Kontrolle“ ist ein Begriff, den Edward Alsworth Ross bereits 1896 etablierte. Die gewollte Lenkung des Einzelnen durch die Gruppe verstärkt die beabsichtigte Herrschaft der Gesellschaft über das Individuum.

Soziale Kontrolle schränkt abweichendes Verhalten ein. Ziel ist die Herstellung von Verhaltenskonformität gemäß den Normen und Werten der Mehrheit. Soziale Kontrolle verhindert auch aufrührerische Verabredungen und erstickt etwaige Revolutionsanbahnungen im Keim.

97 Stufen zur Raucherecke

Inzwischen hat sich aber eine Herrschaftsform kultiviert, die eher einer Fürsorgediktatur als einer Demokratie ähnelt. Und mittendrin ein Kodex, ein Konsens oder doch ein reines Herrschaftsinstrument? Denn Verbote dienen nicht der Volksgesundheit, sondern ausschließlich der sozialen Kontrolle.

Im Wiener Rathaus führen gezählte 97 Stufen über die Feststiege ins Freie, zur Rauchgelegenheit im Innenhof. Und retour auch wieder, treppaufwärts in den Festsaal zurück. Da vergeht einem die Lust auf den Tschick. Man bleibt lieber daheim, raucht vor dem Computer. Und befragt die „allwissende Müllhalde“, das Internet, bezüglich Verbotskultur, solange es noch erlaubt ist.

Der Uhudler war es schon, der Hanf ist es noch immer: verboten, obwohl harmlos. Besonders das Kopftuch für Kinder erhitzt derzeit die Gemüter. Bargeld und Diesel werden auch schon heiß diskutiert. Die Liste der (auch nur geplanten) Verbote ist leicht zu finden. Die linken Staatsgläubigen reagieren naturgemäß entrüstet, sobald das Verbot von der falschen Seite kommt. Jede Restriktion gegen Andersdenkende aber ist ihr natürlicher Verbündeter, könnte man meinen (Stichwort: Cannabis freigeben, aber Rauchen generell verbieten). Seltsam: Von einem etwaigen Messerverbot im öffentlichen Raum redet niemand.

Rauch- und Trinkverbote haben eine lange Tradition zur Entmündigung und Bevormundung. Der 18. Zusatzartikel zur US-Verfassung trat 1920 in Kraft. 1933 wurde er durch den 21. Zusatzartikel wieder außer Kraft gesetzt. Somit war der Alkohol in den USA für etwa 13 Jahre verboten. Die Zeit der Prohibition war eine Erfolgsgeschichte. Sie machte die Mafia endgültig zu einem wirtschaftlichen Faktor. Das Dosierungsrisiko stieg und führte zum vermehrten Angebot von harten Spirituosen anstelle von Getränken mit niedrigem Alkoholgehalt wie Bier und Wein. Die Menge von unsauber destilliertem (also giftigem) Alkohol vervierfachte sich.

In Indien sterben oder erblinden bis heute jährlich Hunderte durch den Konsum illegal hergestellten Alkohols. Wo der Islam Staatsreligion ist, ist der Alkohol – ein arabisches Wort – immer noch verboten. Mit drastischen Folgen. Wo ein Berauschungsverbot herrscht, wird auf legale Mittel ausgewichen. Bei den Mormonen in Utah ist sogar Koffein untersagt. Das führt zum Zucker-Hochgefühl, gespeist durch stete Erhöhung des verdeckten Zuckeranteils.

Es geht um die „Marie“

Sinnvolle Verbote soll es auch geben. Am ehesten noch das Verbot für das Kleine Glücksspiel an den Spielautomaten. Eine persönliche Freiheit oder doch eher eine Form der Abzocke in betrügerischer Absicht? Eine kritische Untersuchung besagt, dass 17 Personen in Mitleidenschaft gezogen und in Geiselhaft durch Spielsucht genommen werden. Aber hier wird sich etwas verändern bis zur nächsten Wahl in Wien, da bin ich mir sicher. Denn schließlich geht es um die „Marie“.

Daten sind die neue Umwelt. Datenschutz ist der neue Umweltschutz. Deswegen wollen die strauchelnden Grünen alle sozialen Medien an die Kandare nehmen. Facebook wurde als Ermöglicher der Demokratie noch gelobt, als 2008 die brillante Social Media Campaign von Barack Obama siegreich war. Der 44. US-Präsident entdeckte die sozialen Netzwerke und deren Datenflut als wichtigste Wahlkampfhelfer für sich und gewann.

So schnell scheiden sich die Geister. Jetzt haben angeblich die Russen die Wahl gestohlen, als Donald Trump sich durchsetzte. Wird Kontrolle erst nötig, wenn es den politischen Zielen zuwiderläuft? Niemand zwingt mich, Facebook zu nutzen. Wie ich auch nicht in ein Lokal gehen muss, wo es nach Frittierfett stinkt.

Generalverdacht gegen Männer

Es gibt gefährliche Freizeitbetätigungen wie Bungee-Jumping, Extrembergsteigen und Skitourengehen. Keine davon ist verboten. Auch Fahrrad- und Skifahren fordern jährlich Todesopfer, der Bodycount ist dreistellig.

Am bekanntesten sind jene Verbote, die in Halal (fromm) und Haram (sündig) unterteilen. Schlimm wird es, wenn diese Normen auch Andersgläubige betreffen und ihnen eine unfreiwillige Lebensweise aufzwingen. Religio leitet sich von der „Rückbindung“ an ein Gotteskonstrukt ab. Für den zivilisatorischen Kodex sind diese Verhaltensweisen teils Hirngespinste, auch wenn sie immer mehr Raum einfordern.

Finde den Fehler: Das Kopftuch soll nicht durch Koran, Sunna oder Hadithen erforderlich sein, dennoch warnt die Glaubensgemeinschaft vor Einmischung in innerislamische Angelegenheiten. Mich stört viel mehr der Generalverdacht gegen alle Männer: Wäre das Haar sichtbar, könnte sich kein Mann mehr beherrschen, lautet eine der archaischen Begründungen, die bei uns im Hier und Jetzt nichts mehr verloren hätte, so sie denn so stimmen sollte.

Solariumverbot und Tätowierverbot für unter 18-Jährige – im Gegensatz zu den kleinen Mädchen – waren leicht und schnell durchzusetzen, auch wenn die Zielgruppe schon wählen darf; aber nicht die Sonnenbank, und auch nicht ihr Studio für nachhaltige Körperverschönerung mit der Tätowiernadel.

Die Mutter aller Verbote

Die Mutter aller Verbote ist das Denkverbot. Eine Zensur verhindert auch, dass sich Gleichgesinnte im abweichenden Denken verbinden könnten. Denn die aufgeklärte freie Gesellschaft ist Teil der Evolution und diente immer schon der Entwicklung zum freien Menschen – was nicht von allen so gern gesehen wird. Aber damit hat die Prohibition auf dem Praterstern nicht das Geringste zu tun. Hier geht es um eine reine Symptom- wie auch Vertreibungspolitik. Zur Erinnerung: Eine alte Forderung der alten Sozialdemokratie war das Recht auf Berauschung, um den harten Arbeitsalltag besser überstehen zu können.

Der Autor

Karl Weidinger (geboren 1962) ist Schriftsteller und Übersetzer mit einer Vorliebe für Gesellschaftskritik; er lebt in Wien und im Burgenland. Bisher sieben Bücher, u. a.: „Der Missbrauch des aufrechten Ganges“ (1993), „Die Verhaftung der Dunkelheit wegen Einbruchs“ (2003), „Die schönsten Liebeslieder von Slipknot“ (2007), Androkles Verlag.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.04.2018)

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