Die Übersensibilität des Kommissars Barnier

Großbritannien ist ein wichtiger Markt für Europas Exporteure und hat auch nach dem Brexit eine besondere Stellung.

Der für die Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich beauftragte EU-Kommissar, Michel Barnier, hat in verschiedenen Medien quer durch Europa seine Ablehnung über den Vorschlag eines erleichterten Grenzabwicklungsverfahrens für den Warenverkehr dargelegt. Er spricht davon, dass das Vereinigte Königreich um die Vorzüge des Binnenmarkts wisse, aber nicht verlangen könne, dass die Europäische Union die Kontrolle über ihre eigenen Grenzen und Rechtsvorschriften aufgibt.

Vorteile auch für die EU

Worum geht es? Es geht darum, dass ein Warenaustausch zwischen dem Vereinigten Königreich und der Union unter Beibehaltung der bisherigen Abwicklungsusancen weitestgehend ermöglicht werden soll. Die Kommission bemüht sich, den Eindruck zu erwecken, dass der Vorteil des Binnenmarkts nur aufseiten des Vereinigten Königreichs verloren ginge und die Union gar keinen hätte. Das ist eine der typischen Fehldarstellungen der Verhandlungsverantwortlichen.

Das Vereinigte Königreich importiert Waren um 110 Mrd. mehr aus der Union, als es selbst exportiert. Das wären etwa 80 Prozent der gesamten österreichischen Exporte, die mehr dorthin gehen als umgekehrt. Das Vereinigte Königreich ist der wichtigste Importstaat für alle anderen Mitgliedstaaten im Binnenmarkt. Deutschland hat einen Handelsüberschuss von rund 60 Mrd. und verkauft rund 15 Prozent seiner gesamten in Deutschland produzierten Autos dorthin.

Auch die österreichischen Unternehmen sind gut im Vereinigten Königreich vertreten. Die Direktinvestitionen der kontinentaleuropäischen Unternehmen überwiegen ebenfalls. Das heißt, die verdienen dort gutes Geld und schütten entsprechend Dividenden nach Europa aus. Rund vier Mrd. Dollar (OECD-Statistik) mehr werden aus Großbritannien in das übrige Europa überwiesen.

Nun, was wollte die Premierministerin? Sie wollte nichts anderes als ein vereinfachtes Zollverfahren im Rahmen eines Freihandelsabkommens. Nach ihrem Vorschlag, der im Wesentlichen von Oliver Robbins, einem Mitglied ihres Teams, entwickelt wurde, soll es keine unmittelbaren Zollkontrollen geben. Das ließe sich grundsätzlich umsetzen, weil nach dem Vorschlag ohnehin keine Zölle auf die Waren zu erheben sind.

Vereinfachte Zollverfahren

In dem Vorschlag sind auch Vereinfachungen für den Nachweis des Warenursprungs vorgesehen. Allerdings wird kein Verzicht auf die Nachweisführung verlangt, weil dies eine Voraussetzung für Begünstigungen, die in anderen Freihandelsabkommen sowohl der EU als auch des Vereinigten Königreichs vorzusehen sind, ist.

Hinzu kommt in dem Vorschlag, dass für Waren, die im Vereinigten Königreich eingeführt werden, aber für die Weiterlieferung in die EU bestimmt sind, das Vereinigte Königreich den EU-Zoll einheben soll, aber umgekehrt, die EU auch für Waren, die in die EU eingeführt werden und für das Vereinigte Königreich bestimmt sind, die EU für den Vertragspartner den Zoll einhebt. Wir reden über einen Umfang von circa vier Prozent der Waren, die im Vereinigten Königreich für die EU bestimmt eingeführt werden, mit einem Zollaufkommen von rund 120 Mio. Das sind etwa 0,6 Prozent des gesamten Zollaufkommens der EU von rund 20 Mrd. nach dem Austritt.

Mit Souveränität wenig am Hut

Das ist der Grund, warum der Kommissar von der Aufgabe von Rechtsgrundsätzen und der Kontrolle über das eigene Recht spricht und grundsätzlich den Ansatz ausschließt. Nun, das mag ja im engsten Sinn auch nicht ganz falsch sein. Aber verwunderlich ist es schon, wegen des geringen Aufkommens solche Sensibilitäten erkennen zu lassen.

Sieht man, wie die Kommission mit den Souveränitätsschranken der Mitgliedstaaten umgeht, dann werden diese Aussagen noch unverständlicher. Die Souveränitätsschranke, wie sie der deutsche Bundesverfassungsgerichtshof im Lissabon-Urteil für einen Staat festgelegt hat, umfasst, über die eigenen Einnahmen und Ausgaben selbst bestimmen zu können, also selbst die Steuern festlegen und erheben zu dürfen und die Strafhoheit über die eigenen Bürger zu haben. Verliert ein Staat diese Hoheitsrechte, verliert er auch seine Selbstständigkeit.

Aber die Kommission hat mit diesen Grundsätzen wenig am Hut. Beim Vorschlag über die gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage ist auch der Staat, in dem die Konzernspitze ihren Sitz hat, jener, der für alle anderen Staaten die Steuern feststellt und erhebt. Und jetzt kommt's: Im Fall, dass eine Abgabenverwaltung eines anderen Mitgliedstaats, in dem eine Konzerntochter ansässig ist, die Steuerfestsetzung der für die Konzernspitze zuständigen Abgabenverwaltung wegen eines Fehlers beeinspruchen will, dann kann sich diese an die Gerichte des Ansässigkeitsstaats der Konzernspitze wenden. Es gibt kein Zusammenarbeitsverfahren zwischen den Behörden zur Streitbeilegung, wie es etwa die WTO vorsieht.

Ein noch größerer Eingriff in die Hoheitsrechte der Mitgliedstaaten ist bei den sogenannten One-Stop-Shop-Verfahren in der Umsatzsteuer festzustellen. Wehleidig in eigener Sache, radikale Ansätze beim Beseitigen der Hoheitsrechte der Mitgliedstaaten ist ein Binnenmarktansatz, der in keinem anderen Binnenmarkt festzustellen ist. Tja, bei der Aussage gibt's auch eine Ausnahme: China. Die Kommission sollte sich dieses Umstands besinnen.

Es ist für die Premierministerin schwerst genug, eine Lösung zu erzielen, für die eine Zustimmung im House of Commons möglich ist. Die Vertreter eines vertragsfreien Ausstiegs wie Jacob Rees-Mogg und seine Anhänger verfolgen radikale Ziele, ganz nach dem James-Dean-Motto: „Denn sie wissen nicht, was sie tun“. Aber sie machen weiter auf sinnlos. Da hat eine wehleidige Prinzipienreiterei von Barnier keinen Platz, vor allem wie aufgezeigt, wenn die Kommission gegenüber den Mitgliedstaaten keinen Ansatz einer Achtung vor den letzten Souveränitätsschranken zeigt.

Vernünftiger Vorschlag Mays

Der Vorschlag der Premierministerin ist vernünftig und ist zu unterstützen. Das Vereinigte Königreich ist ein viel zu wichtiger Markt für europäische Exporteure und hat – gerade wegen seiner Geschichte als Mitgliedstaat – auch nach dem Ausscheiden, eine besondere Stellung. Hinzu kommt, dass nach dem Vorschlag nicht bedingungslos am vollen Marktzugang für die Finanzwirtschaft, den wichtigsten Wirtschaftszweig des Vereinigten Königreichs, festgehalten wird. Ein angesichts der Bedeutung des Wirtschaftszweigs mutiger Ansatz.

Es geht vor allem um die betroffenen Arbeitnehmer jenseits und diesseits des Ärmelkanals und um die Betriebe, die gar nichts für politische Entscheidungen können, die es aber gibt und geben darf. Daher sind politische Spielereien, die gar nicht notwendig sind, zu unterlassen und an alle Politiker sei die Bitte gerichtet: Hört auf, Rosinen zu zählen, die gibt's in dem Zusammenhang nicht.

DER AUTOR

Gottfried Schellmann ist Steuerberater in Wien und Experte für internationale Unternehmensbesteuerung; Lektor an der FH Campus Wien und der Johannes-Kepler-Universität in Linz. Verfasser verschiedener Fachbeiträge zum internationalen Steuerrecht sowie zum Zoll- und Umsatzsteuerrecht. Bis Ende 2014 Vizepräsident der CFE (Confédération Fiscale Europeénne) in Brüssel.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.08.2018)

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