Game over für die linke Bourgeoisie

(c) Peter Kufner
  • Drucken

Wir stecken in einer Globalrevolution. Es geht bei den EU–Wahlen ums große Ganze. Gehen Sie bitte am 26. Mai wählen.

Gastkommentare und Beiträge von externen Autoren müssen nicht der Meinung der Redaktion entsprechen.

Seit meinem 16. Lebensjahr verstehe ich mich als sozialer Demokrat. Mit gutem Grund. Wie sollen Gesellschaften denn sonst funktionieren, wenn wir in keinen Diktaturen leben wollen? Die liberale Demokratie allein ist eine Fehlkonstruktion, so lange sie nicht auf einem ernsthaften sozialen Fundament beruht.

Mehr als eine halbe Million Wählerinnen und Wähler (17,7 Prozent) gaben mir bei den Wahlen zum Europäischen Parlament 2009 ihre Stimme. Als ich 2014 nicht mehr kandidierte, blieb ein Drittel von ihnen zu Hause. Das entspricht einem ganzen Mandat. Vor allem an diese Ferngebliebenen möchte ich appellieren: Gehen Sie bitte am 26. Mai zur Wahl.

Denn es trifft zu, was nun allenthalben zu hören ist: Es geht ums große Ganze. Wir stecken mitten in einer Globalrevolution. Das Versagen von Parteien und Demokratien in der westlichen Welt, die Trump'schen Handelskonflikte, die ökonomische Ungleichheit, die Sorgen um Digitalisierung und Robotik, die Klimaveränderungen, das Säbelrasseln im Nahen Osten, dazu die neue Aufrüstung und der chinesische Überwachungskapitalismus: Da konkurrieren so viele Brandherde gleichzeitig miteinander. Das kann sehr schnell in eine Kriegsspirale münden, nicht nur rund um den Iran.

Europa wird binnen einer Generation im Weltmaßstab realistischerweise wirtschaftlich nur noch halb so bedeutend sein wie heute.

Und jetzt der Neonationalismus

Vieles davon hat sich schon 1999 abgezeichnet, als die SPÖ mich zu ihrem Spitzenkandidaten bei den Wahlen zum Europäischen Parlament machte. Parteimitglied wurde ich aber nie. Ebenfalls mit gutem Grund. Die inneren Strukturen waren und sind demokratiegefährlich erstarrt. Viel zu viele Funktionäre und Parteianhänger schmoren lediglich im eigenen Saft, Fleisch ist kaum noch vorhanden. Dafür einige harte Knochen – Banker, Berater, Spitzenmanager, Tartuffes. Welche sozialdemokratischen Werte verkörpern sie? Mit wem sind sie solidarisch?

Der sogenannte Dritte Weg von Anthony Giddens, vertreten durch Tony Blair, ins deutsche Milieu übertragen von Gerhard Schröder, erwies sich für Millionen traditionell linker Wähler als Holzweg. Die SPD ließ sich dafür feiern, den größten Niedriglohnsektor Europas geschaffen zu haben. Dafür behielt Deutschland seine Position als Exportweltmeister.

Doch nicht nur Frankreich und Italien ächzen unter diesen verzerrten Wettbewerbsbedingungen. In Paris und Rom wurden die Roten zerrieben, auch deshalb, weil sie sich nicht dagegenstellten. Wer als Sozialdemokrat den Neoliberalismus inhaliert, wacht mit dem Neonationalismus auf. Vor zwei Jahrzehnten stellten die Sozialdemokraten in zehn der damals 15 EU-Mitgliedstaaten den Regierungschef oder waren zumindest an der Regierung beteiligt.

Auch in sieben der damals zwölf EU-Beitrittskandidatenländer saßen sie an den Hebeln der Macht. Doch sie verstrickten sich in verhängnisvolle Sündenfälle. Vor allem wurde die Chance vertan, die Finanzmärkte in Europa an die Kandare zu legen. So hätte die spätere, ab 2008 einsetzende Wirtschaftskrise zumindest massiv eingedämmt werden können. Doch die City of London saß damals mit am Kabinettstisch in der Downing Street, und Schröder mobbte in Berlin seinen Parteichef und kritischen Finanzminister Oskar Lafontaine 1999 aus dem Amt.

Ebenso rächte sich die vorschnelle, große EU-Erweiterung ab 2004. Wieder zählten deutsche und britische Sozialdemokraten zu den Treibern, Blairs Labour-Partei setzte nicht einmal eine siebenjährige Übergangsfrist für Arbeitsbewilligungen durch. So übersiedelten von 2004 bis 2015 fast eine Million EU-Bürgerinnen und -Bürger nach Großbritannien, vor allem aus Polen. Lohndumping wurde Alltag. Auf dieser Schieflage schlitterten die Inselbewohner in ihr Brexit-Dilemma.

„Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten“, skandierten Demonstranten schon vor 100 Jahren. Und jetzt sollen es die Paare Schieder/Wehsely und Rendi-Wagner/Drozda, auf europäischer Ebene Timmermans/Barley (die deutsche EU-Spitzenkandidatin) mit ihrem Appell an den „Zusammenhalt“ richten? Da zeichnet sich ein ganz anderes Ergebnis ab: ein Game over für die linke Bourgeoisie.

Europas fragile Zukunft

Wen also wählen, wenn es um Europas so fragile Zukunft geht? Für mich kommen die drei K infrage: Karas, Kogler und, ja, auch die KPÖplus. Othmar Karas kenne ich seit gemeinsamen Zeiten im Bundesschülerbeirat. Jetzt gilt auch er schon als links, so sehr haben sich die Wahrnehmungsparameter verschoben. In Wirklichkeit zeigt er Haltung, bei ihm darf man sich sicher fühlen, seine Nähe zur Versicherungswirtschaft färbt ab.

Werner Kogler kann als Volkswirt auch rechnen, als Teil der Fraktion der Europäischen Grünen wird er das Menschheitsthema Klimawandel in den Mittelpunkt stellen. KPÖplus verkörpert die so vernünftige Utopie, die soziale Frage nicht wieder explodieren zu lassen. Denn noch haben die Neonationalen ihren Zenit nicht erreicht. Gelingt es ihnen, die heraufziehende nächste Wirtschaftskrise für sich zu nutzen, kann ein linkes Gegengewicht europapolitisch manches in der Waage halten.

Mut zur Radikalität

In Frankreich könnte Marine Le Pen oder ihre noch radikalere Nichte Marion Maréchal im Jahr 2022 viel eher Staatspräsidentin werden, wenn nicht der Ex-Trotzkist Jean-Luc Mélenchon ein kraftvoller Gegner wäre. Längst ist auch in Österreich die Debatte überfällig, wo eine ernst zunehmende linke Sammlungsbewegung bleibt. Denn so sehr es den österreichischen Republiken nutzte, dass sich die Sozialisten nach dem Ersten Weltkrieg nicht spalteten: Wenn die SPÖ seit Langem versagt – muss davon nur die FPÖ profitieren?

Um das so viel beschworene europäische Haus nicht einstürzen zu lassen, brauchen wir in jedem Fall einen neuen Mut zur Radikalität – auch aus der politischen Mitte heraus. Die Machtfrage muss wieder zum Thema werden, die Analysen müssen klar und verständlich sein: Wem gehört was warum, und wozu führt das? Welche Interessen werden von wem wie verfolgt? Und natürlich: Welche Visionen haben wir für ein Leben in 30, 50 Jahren?

Die Wiederentdeckung einer Offenheit gegenüber Technik und Fortschritt ist überfällig. Die rasanten Entwicklungen bei der künstlichen Intelligenz müssen in ihrer Ambivalenz verstanden, verarbeitet und in ein überzeugendes ökonomisch-politisches Programm aufgenommen werden, verknüpft mit durchsetzbarem Datenschutz.

Es ist Zeit, Platz zu machen für andere Zugänge, andere Lebensläufe. Die 29 Jahre alte US-Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez zeigt, was eine Einzelperson mit glaubwürdiger Biografie auslösen kann. Das gilt auch für die Klimaaktivistin Greta Thunberg. Wo sind bei uns die neuen Jungen? Es können auch ältere Personen sein, die aber nicht von politischen Apparaten deformiert wurden. Wo sind die überzeugenden neuen Sozialaktivisten?

Die politische Klasse muss mit neuen Personen und Organisationsformen aufgebrochen werden. Dazu gehören auch geloste Bürgerräte. Dann kann es wieder gelingen, im Rahmen eines weltoffenen, sozialen Kontextes der Begeisterung ein Zuhause zu verschaffen – inmitten einer kühnen europäischen Demokratie.

Der Autor

Dr. Hans-Peter Martin(*1957 in Bregenz) ist Autor („Bittere Pillen“, „Die Globalisierungsfalle“) und war lang „Spiegel“-Korrespondent. 1999−2014 EU-Abgeordneter, zuerst für die SPÖ. Sein jüngstes Buch heißt „Game Over – Wohlstand für wenige, Demokratie für niemand, Nationalismus für alle – und dann?“. www.hpmartin.net

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.05.2019)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.