Heiligt der Zweck alle Mittel?

Gedanken zum Ibiza-Video. Sind „Fallenstellen“ und Cyberangriffe gerechtfertigt, um den politischen Gegner zu diskreditieren?

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Während die Inhalte des Ibiza-Videos in Österreichs Innenpolitik nachwirken, wird über Personen und die Art und Weise der Entstehung nur zurückhaltend berichtet. Dabei würde gerade die Genesis dieser Dokumentation Anlass geben, über zwei alteuropäische Fragen nachzudenken, nämlich: Heiligt ein besonderer Zweck tatsächlich alle Mittel, und vermischt sich dabei die Gewaltenteilung des modernen Rechtsstaates? Vor den jüngsten Cyberangriffen auf Parteizentralen bekommt dies eine neue Aktualität.

Bereits 2013 hat Hans Magnus Enzensberger bei einer Diskussion über die Überwachung linker Gewaltgruppen unter Einschränkung deren persönlicher Datenschutzzone in einer ARD-Sendung mit Frank Schirrmacher die rechtliche Fragwürdigkeit der dabei verletzten Privatsphäre mit publikatorischer Unterstützung thematisiert: „In jeder Verfassung der Welt steht ein Recht auf Privatsphäre, Unverletzlichkeit der Wohnung usw. Das ist abgeschafft! Das heißt, wir befinden uns in postdemokratischen Zuständen.“ Denn auch der Schutz vor Gewalttätigen rechtfertigt nicht die Mittel.

Werden allerdings Rechtspopulisten in die Falle gelockt, so wird diese „Illegalität“ mit dem hohen öffentlichen Interesse an den Gedanken eines Politikers gerechtfertigt. Da allerdings die nach dem derzeitigen Wissensstand gewonnenen Informationsinhalte weder die Republik gefährdeten – es wurde ja von den Betroffenen repetitiv die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit angesprochen – noch einen konspirativen Plan ans Licht brachten, kommt Zweifel auf, ob die angewandten Mittel wirklich durch einen hohen Zweck gerechtfertigt waren. Selbst wenn man das Interview so interpretiert, dass in steuerbetrügerischer Art Gelder entgegengenommen und Gegenleistungen durch politische Entscheidungen erkauft werden sollten, wären jene Instanzen a priori vorgegeben gewesen, die der freiheitliche Rechtsstaat vorsieht – man hätte die Videos den Gerichten übergeben und im Rahmen der Pressefreiheit über das Prüfungsprozedere der Justiz bis hin zu einem eventuellen Urteil berichten können.

Dies vor einer Veröffentlichung zu klären, wäre Rechtsstaatlichkeit gewesen. Das ist allerdings nicht geschehen, die vierte Gewalt hat die Kompetenz der zweiten Gewalt übernommen, indirekt eine öffentliche Rechtsprechung ausgeübt und die Betroffenen ohne Gegenrede zum politischen Tod verurteilt. Die Gewaltentrennung des Rechtsstaates zu vermischen scheint auch in der Causa Ibiza zum Symptom einer Erkrankung zu werden, für die es andere und prominente Beispiele gibt: Denn auch die emotional verständliche, aber rechtsstaatlich fragwürdige Exekution Osama bin Ladens ging an den eigentlich dafür zuständigen Gerichten vorbei. Todesurteile können nicht vom Weißen Haus oder anderen Meinungszentren verkündet werden, und die Exekution liegt außerhalb des Krieges nicht in den Händen des Militärs.

Rückkehr ins Mittelalter

Ist der Verzicht auf die vorausgehende notwendige rechtliche Klärung nicht eine Art Rückkehr zum Mittelalter in Gestalt des digitalen Prangers, mit der eine eigentlich populistische Grundstimmung der Häme erzeugt werden soll und die Bloßstellung des anderen – vor allem des politischen Gegners – als eigener moralischer Triumph gefeiert wird?

Erinnert das nicht an Bert Brechts „Die Maßnahme“? Wer eine bessere Welt will, muss töten können, und zwar mit gutem Gewissen und auch ohne Gerichte. Wer die Welt von Rechtspopulisten befreien möchte, dem sind keine ethischen Grenzen gesetzt – auch nicht in den Social Media und beim Dirty Campaigning. Brechts Frage, wie weit die Revolution moralische und rechtliche Grundsätze verletzen darf, um Ausbeutung und Unterdrückung wirksam zu bekämpfen, war eigentlich an die marxistische, menschenverachtende Terrorherrschaft Lenins und Stalins gestellt, die selbst den rechtswidrigen, ohne Gerichte vorgehenden Methoden mit einer „neuen Ethik“ die Absolution erteilte, wenn sie nur sinistroponierten Zielen dienten.

Der Zweck heiligte die Mittel der Schreckensherrschaft, was aber auch damals schon hinterfragt wurde und Arthur Koestler in seinem Roman „Sonnenfinsternis“ die gezielte Frage stellen ließ, ob selbst bei der Durchsetzung des Sozialismus wirklich alle Mittel erlaubt sein dürften. In fast Dostojewski'scher Art und Weise reflektierte er über die Zeit, als noch die Illusion vom guten Zweck alle Mittel geheiligt hat.

Dass dieser Ethikverlust nicht unreflektiert und noch dazu ohne Gewissensbisse hingenommen wurde, hat auch Thomas Mann im „Zauberberg“ beschäftigt: Anhand der düsteren Figur des Fanatikers Leo Naphta zeichnet er eine Gestalt, die bemüht war, allen Unmenschlichkeiten eine dogmatische Grundlage zu geben. Er bezeichnet dies als die „zweite Ethik“, die den Terror rechtfertigt, wenn damit das Ziel erreicht wird.

Wird diese „zweite Ethik“ auch heute noch bemüht, wenn man politische Gegner in eine Falle lockt, sie zu ihnen schädigenden Aussagen verleitet – oder Cyberangriffe auf Parteizentralen von langer Hand vorbereitet und dann auch durchführt? Und wird diese neue Ethik dann auch so verwendet, um all das zu verharmlosen und eigentlich fast als rechtschaffen darzustellen, da es ja um das eigene politische Ziel geht? Bei den Zehntausenden Guillotine-Toten war es so, teilweise auch bei den Millionen Toten der Stalin-Diktatur. Und bei den Cyber-Großangriffen ist es ebenfalls zu befürchten – das Ziel wird auch hier möglicherweise die Mittel heiligen.

Der Autor

Univ. Prof. DDR. Johannes Huber(*1946) ist Mediziner und Theologe. Nach seiner Habilitation an der medizinischen Fakultät der Universität Wien wurde er 1992 Leiter der Abteilung für gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin am AKH in Wien. Er leitete bis 2007 die Bioethikkommission der österreichischen Bundesregierung.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.09.2019)

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