Türkei: Der Vormarsch der islamistischen Chauvinisten

Der türkische Präsident Abdullah Gül kommt nächste Woche zum Staatsbesuch nach Österreich. Was für ein Land repräsentiert er?

Das erschreckende Bild einer durch und durch totalitären Gesellschaft, die bis ins letzte Detail durchorganisierte absolut autoritäre Staatsmacht.“ Nein, die Rede ist hier nicht von der Türkei, sondern von Orwells berühmtem Buch „1984“.

Ganz so weit ist die Türkei unter dem autoritär regierenden Ministerpräsidenten Erdoğan zwar noch nicht, aber vieles, was in Orwells Fantasie vorkommt, findet sich auch im Islamismus des Herrn Erdoğan. Nur heißt das Wahrheitsministerium da Justizministerium, und die Gedankenpolizei in „1984“ ist jetzt die dem Diyanet (der Religionsbehörde) ergebene Funktionärsclique der Regierung.

Jüngstes Beispiel: Da werden Dutzende regierungskritischer Journalisten festgenommen, einem von ihnen, dem angesehenen Reporter Ahmed Şik, wird sein noch nicht einmal fertiges Buch beschlagnahmt, digitale Kopien werden zerstört. Şik hatte über den Geheimbund Ergenekon recherchiert und war dabei auf die seltsame Verbindung eines radikalen Islamistenbundes, der Fethullah-Gülen-Bewegung, und der türkischen Justiz sowie der Polizei gestoßen.

Der Polizeistaat Türkei

Bei Orwell werden solche Bücher in einem „Gedächtnisloch“ vernichtet, in der Türkei unserer Tage muss das Wahrheitsministerium, pardon, das Justizministerium, ziemlich hilflos mitansehen, dass Şiks Buch im Internet kursiert. „Wir brennen alles Böse und allen Irrglauben aus“, heißt es bei Orwell, in der Türkei schlägt nur die (Gedanken-)Polizei zu und sperrt die „Verbrecher“ (so der famose Ministerpräsident) ins Gefängnis, in dem nach wie vor gefoltert wird.

Der Polizeistaat Türkei hat freilich allen Grund, Publizität über die Gülen-Bewegung zu begrenzen. Es handelt sich hier um eine weltweit agierende Sekte islamistischer Chauvinisten, die im Geheimen Welteroberungspläne verbreiten. Diese Bewegung, schreibt Necla Kelek, betont die Überlegenheit des Islam gegenüber jeder anderen Religion, sie ist in Japan, in Russland, in ganz Westeuropa und in der Türkei aktiv; sie verfügt über Universitäten, Fernsehsender, eine Bank, Versicherungen, Zeitungen, einen Unternehmerverband und Gewerkschaften.

Fethullahci, wie sich Gülens Anhänger nennen, haben inzwischen Positionen bis in höchste türkische Regierungskreise... Die Sekte hat die Struktur eines Konzerns und ist absolut despotisch... Gülens Gefolgsleute sind die intellektuellen Vordenker der AKP. Bei Orwell nennt sich die Führungsfigur der „Große Bruder“.

„Was immer die Partei für Wahrheit hält, ist Wahrheit“, heißt es bei Orwell. Aber auch in der Türkei. Das musste die junge Wissenschaftlerin Pinar Selek erfahren, die nun schon mehrfach wegen eines Sprengstoffanschlags angeklagt worden ist. Obwohl klar ist, dass sie damit nichts zu tun hatte (die Explosion wurde durch eine schadhafte Gasleitung ausgelöst), wird sie immer wieder angeklagt. Der Grund, sie hat geschrieben, was eigentlich jeder weiß: „Bei uns gibt es ganz allgemein ein Problem mit der Demokratie. Und das äußert sich in den Demütigungen der Armenier, den Kurden und in der Verachtung der Frauen. Sexismus geht Hand in Hand mit Militarismus und Nationalismus.“

Ein bizarres Detail dazu: Die Staatsanwaltschaft brachte eine „Augenzeugin“, die dann zugab, die Angeklagte nie gesehen zu haben. Man hatte ihr, einer Analphabetin, einen Text vorgelegt, den sie mit ihrem Daumenabdruck dann auch brav unterschrieben hatte.

„Wer die Macht über die Geschichte hat, hat auch Macht über Gegenwart und Zukunft“, heißt es bei Orwell. Und auch beim Großen Bruder in der Türkei. Und deshalb wird der Völkermord an den Armeniern bis heute bestritten.

Doch die Fakten sind eindeutig: Schätzungsweise 1,5Millionen Armenier wurden in den Jahren 1915/1916 im damaligen Osmanischen Reich gezielt ermordet. Den Plan zur Vernichtung der armenischen Minderheit hatte das nationalistische Jungtürken-Regime bereits lange zuvor beschlossen.

Terminologie der Nazis

Rund die Hälfte der Opfer wurden an ihren Wohnorten ermordet, der andere Teil auf Deportationsmärschen zu Tode geschunden. Wer es jedoch heute wagt, diesen Völkermord anzusprechen, den trifft die ganze Macht des Wahrheitsministeriums.

Denn was der Große Bruder für Wahrheit hält, ist Wahrheit. Und so meinte Herr Erdoğan, hemmungslos einprügeln zu können auf die Schweizer, als die sich gegen den Bau von Minaretten aussprachen: „Zeichen einer zunehmenden rassistischen und faschistischen Haltung in Europa, denn Religions- und Meinungsfreiheit sind Grundrechte der Menschheit.“ Abgesehen davon, dass dies mit Rassismus nichts zu tun hat und Erdoğan hier die Terminologie der Nazis übernimmt, lohnt in sich ein Blick in die Türkei: Vor rund 100Jahren war da noch etwa ein Drittel der Türken christlich, heute nur mehr ein Prozent, und das wird unterdrückt, schikaniert und in Einzelfällen sogar getötet. Der Bau jeglicher Versammlungsräume, gar nicht zu reden von Kirchen, wird von den Behörden systematisch behindert.

Wer den Islam kritisiert, ist krank

Das Denken des heutigen Großen Bruders in der Türkei aber verrät ein anderes wichtiges Wort: Islamophobie sei ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ein entlarvendes Wort: Wer den Islam kritisiert, ist also krank, gehört in die Heilanstalt – das hatten wir doch schon einmal. Bei Orwell wird dem Opfer auch der Grund für die Folter erklärt: „Warum haben wir Sie hierher gebracht? Um Sie zu heilen! Um Sie geistig gesund zu machen.“

Die Präpotenz des Ministerpräsidenten erweist sich auch im Bereich der Kunst. Als Erdoğan kürzlich ein Denkmal sah, das den Frieden mit den Armeniern symbolisieren sollte, fand er dies „abartig“ – der Große Bruder bei den Nazis sprach in solchen Fällen von „entartet“. Ein Unterschied? Natürlich wird das Denkmal inzwischen geschleift.

„Bereinigte“ Medienlandschaft

Was die Türkei unter Erdoğan unter Demokratie versteht, ist am deutlichsten im Bereich der (nicht vorhandenen) Pressefreiheit zu erkennen. Vor einigen Jahren gab es drei große Familienclans (Doğan, Bilgin, Uzan), die sich fast die gesamte Medienlandschaft untereinander aufgeteilt hatten. Dann wurden zwei praktisch enteignet, übrig blieb der Doğan-Clan, der nun mit einer Zwei-Milliarden-Euro-Klage wegen Steuerhinterziehung in den Ruin getrieben worden ist und jetzt alle seine Medienunternehmen verkauft.

Es ist absehbar, dass die radikal-islamistische Gülen-Bewegung demnächst die entscheidende Medienmacht im Lande ist. Die Menschenrechtsorganisation „Reporter ohne Grenzen“, die sich weltweit für die Pressefreiheit engagiert, hat die Türkei inzwischen auf Platz138 von insgesamt 178Ländern eingestuft, hinter Zimbabwe (123), Bangladesch (126) und der Ukraine (131).

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.04.2011)

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