"Ankerkinder" sind die neuen "Scheinasylanten"

Wie uns das Innenministerium auf die nächste Verschärfung im Asylrecht vorbereitet und wie Medien dabei mitmachen.

Am 3. Jänner präsentierte das Innenministerium die Asylstatistik 2011. Die Kernaussage laut Innenministerin Johanna Mikl-Leitner: Die Zahl der Asylanträge 2011 habe gemessen am Jahr zuvor zugenommen, die Erstaufnahmestelle Traiskirchen sei deutlich überbelegt. Besonders zugenommen habe außerdem die Zahl der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge unter den Neuanträgen. Eine Tatsache, die laut Innenministerium besonderes Augenmerk verlange, biete sie doch nachziehenden Erwachsenen eine erleichterte Möglichkeit auf Asyl.

Vier Tage nach der Präsentation der Zahlen sind ein paar Medien auf den Zug aufgesprungen. Sowohl der „Kurier“ als auch ORF Niederösterreich lieferten mit ihrer Berichterstattung ein eindrückliches Beispiel dafür, wie der vom Innenministerium angeleitete Diskurs zu Flucht und Asyl von Medien unhinterfragt übernommen und reproduziert wird.

Beide Beiträge nehmen die überbelegte Erstaufnahmestelle Traiskirchen in den Blick und thematisieren den Anstieg an unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Als einzige Quelle wird Franz Schabhüttl zitiert, Leiter der Erstaufnahmestelle Traiskirchen. Dessen eigene Interessenslage bleibt unhinterfragt, Gegenpositionen kommen nicht zu Wort.

Nachlässige Recherche

UNHCR, Asylkoordination, Caritas, evangelische Diakonie oder Integrationshaus: Sie alle sind tagtäglich in der Betreuung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge aktiv, kennen die Problematik und die dazugehörigen Zahlen. Ihre Expertise zählte im Vergleich zu jener des Leiters der Erstaufnahmestelle aber offensichtlich nicht.

Nachlässige Recherche führte außerdem zu Falschinformationen im Onlinebeitrag des ORF. So wurde behauptet, Eltern und Geschwister bekämen „automatisch einen positiven Asylbescheid, wenn das Kind nach Österreich geflüchtet ist“. Erst nach Kritik von SOS Mitmensch wurde richtiggestellt, dass die Kernfamilie nur nachkommen kann, wenn ein Asylverfahren bereits positiv abgeschlossen ist. Verschwiegen wurde jedoch weiterhin, dass auch dies nur möglich ist, wenn ein Verfahren noch während der Minderjährigkeit abgeschlossen wird.

Entlarvende Sprache

Dass sich dieses Detail mit einem einzigen Anruf bei der Asylkoordination hätte erfragen lassen, zeigt, welche Priorität ausgewogene Berichterstattung zu Flucht und Asyl offensichtlich genießt.

Die Berichte sind aber nicht nur unrichtig, sondern vor allem auch in ihrer Sprache entlarvend. Während im ORF aus unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen „sogenannte Ankerkinder“ werden, geht der „Kurier“ noch weiter und erhebt die Wortneuschöpfung „Ankerkinder“ zum allgemein gültigen Fachbegriff. Er setzt stattdessen die bisherige Bezeichnung unbegleitete minderjährige Flüchtlinge unter Anführungszeichen und ein „sogenannte“ davor.

Von „Flüchtlingen“ zu „Scheinasylanten“, von „unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen“ zu „Ankerkindern“ und „sogenannten ,unbegleiteten Minderjährigen‘“. Eine weitere Drehung im österreichischen Asyldiskurs. Das sprachliche Neujahrsbaby 2012 ist ein „Ankerkind“.

Was aber unterscheidet „Ankerkinder“ von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen? Eben noch allein auf der Flucht vor Verfolgung und im Kampf ums Überleben, werden minderjährige Flüchtlinge durch die Bezeichnung als „Ankerkinder“ plötzlich zu Instrumenten anderer. Je nach Lesart sind sie dann entweder Opfer ihrer Eltern, die kriminell ihre Kinder ins Ungewisse „vorausschicken“, nur um später selbst nachziehen zu können. Oder die Kinder werden samt ihrer Eltern zu Opfern „weltweiter Schleppersyndikate“, die Flüchtlingen „in den Lagern Griechenlands die Kinder abnehmen und sie vor das Lagertor in Traiskirchen stellen“.

In der Logik der „Ankerkinder“ ist kein Platz mehr für legitime Fluchtgründe. Als (unbegleitete minderjährige) Flüchtlinge gehörte ihnen geholfen, als Werkzeug Krimineller aber gehören sie bekämpft. Mikl-Leitners „Ankerkind“ bereitet uns auf schon angedeutete Gesetzesänderungen im Asylbereich vor. Der Asyldiskurs wurde erneut ein Stück weg von menschenrechtlichen Perspektiven hin zu kriminellen verschoben.

Die Türen sind geschlossen

Wie das funktioniert, zeigt auch ein kurzes Zitat des Leiters des Flüchtlingslagers Traiskirchen im „Kurier“: „Keiner schafft den weiten Weg ohne Schlepper“, wird Schabhüttl zitiert, der damit unterstreichen möchte, wie verbreitet kriminelle Schlepperei sei. Was er aber damit ebenfalls sagt: Für Menschen auf der Suche nach Schutz vor Verfolgung gibt es keine legale und ungefährliche Möglichkeit, nach Österreich zu gelangen. Die Türen für Flüchtlinge sind geschlossen – und offensichtlich sollen sie es auch bleiben.

Diesbezügliche Symbolik mit auf den Weg gibt schließlich auch das Ende des Artikels. Zur Verdeutlichung der Wortneuschöpfung „Ankerkinder“ werden neben Anker nun auch Seil und Mauer bemüht. „Ankerkinder“ wären wie Anker, die an einem Seil über eine Mauer geworfen werden, um ebendiese zu überwinden. „Verbietet die Anker!“, schreien die einen – „Weg mit den Mauern!“, antworten wir. Denn ohne den Fluchtweg versperrende Mauern braucht es weder (kriminelle) Seile noch (entmenschlichte und instrumentalisierte) Anker(-kinder).

Zu den Autoren


E-Mails an: debatte@diepresse.comAlexandra Siebenhofer studierte Soziologie, Sinologie und Wirtschaftsinformatik in Wien, Leiden, Nanjing und Eisenstadt. Redakteurin bei Radio Stimme, dem politischen Magazin der Initiative Minderheiten.
Gerd Valchars ist Politikwissenschaftler, Lektor am Institut für Staatswissenschaft der Uni Wien, Mitglied der Forschungsgruppe „Kritische Migrationsforschung“ und Redakteur bei Radio Stimme.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.01.2012)

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