Einmal russische Seele, immer russischer Seele

Warum die Protestbewegung des Mittelstandes in der russischen Provinz bisher nur einen schwachen Nachhall fand.

Ein oft strapaziertes Stück russischer Literatur ist der Sager, Russland sei mit dem Verstand nicht zu fassen, an Russland könne man nur glauben. Jacques Chirac hat den Spruch bemüht, und in Wladimir Putins Mund mutierte das „können“ zu „müssen“. Der Verfasser des Versleins, Fedor Tjutschew, war im 19.Jahrhundert beamteter Zensor.

Das haben Slawophile aller Zeiten gemeinsam: den verklärten Blick in die Weiten des Ostens, verbunden mit sorgfältiger Kontrolle darüber, ob die Menschen dort dem Staat auch gerecht werden. Insofern haben die Technokraten Stalins bei den zaristischen Autoritäten gelernt.

Die Paradoxie, dass ausgerechnet Putin Alexander Solschenizyns Widerstandsepos „Archipel Gulag“ zur schulischen Pflichtlektüre machte, gründet auf genau dieser Prinzipienkonstellation: Der patriarchal agierende Nobelpreisträger war überzeugt davon, das auch metaphorisch große Land brauche starke Führung. Einmal russische Seele, immer russische Seele – bei Putin hieß das Ende Februar griffig „Kampf um Russland“.

Damit antwortete er auf die Sprache des neuen Widerstands, die alles andere als kämpferisch ist. Man wolle keine Revolution, erzählen mir gebildete Petersburger. Man wolle eine Professionalisierung aller Bereiche des Staates – und ging mit gutem Beispiel voran, indem man, parteifrei organisiert, mobile Gruppen aus Juristen und Chauffeuren zwischen den Wahllokalen der Stadt pendeln ließ.

„Weil ich es sage...“

Dazu wurde an diesem 4. März versucht, die Behörden vor Ort mit ihren eigenen Waffen zu schlagen – dem Buchstaben des Gesetzes. Das Problem ist nur, wie Ivan Kvasov, einer der Organisatoren unabhängiger Wahlbeobachter, berichtet, dass inzwischen die totale Prinzipienlosigkeit eingetreten sei. „Weil ich es sage“, sei die einzige Begründung.

Dabei scheint es gerade die Debatte zu sein, die sich der Widerstand wünscht. Er ist eine Bewegung des Mittelstandes und spricht die eloquente Sprache des Abwägens und Argumentierens. In zahlreichen Printmedien sind scharfsichtige Analysen der Lage zu lesen, die nichts an Deutlichkeit auslassen.

Trotz dieser fast schon bestürzenden Offenheit funktioniert, was immer schon funktioniert hat – „Der Staat bin ich“.

Seltsames Staatshandeln

Diskursverbote scheinen auf den ersten Blick nicht vorhanden zu sein. Umso seltsamer wirkt das Staatshandeln, das sich weder die martialische Sprache noch die entsprechenden Taten abgewöhnt hat. Dagegen anzukämpfen erfordert bisweilen eine gewisse Flexibilität – Wahlbeobachtern wird geraten, Taschenlampen mitzunehmen, weil manchmal beim Auszählen das Licht abgedreht werde.

Der Tradition folgend – die „Gemeinschaft“, russisch Sobornost, ist Teil der Vorstellung vom guten Volk, wie sie die staatsnahe Orthodoxie über Jahrhunderte predigte –, scheinen Behörden im ganzen Land das absolutistische Prinzip in Eigenregie zu einem „Der Staat sind wir“ umzumünzen und darunter das weisungsfreie Handeln im Dienst des Kreml zu verstehen.

Sind in Petersburg und Moskau Netzwerke vorhanden, die sichtbar machen, was vor sich geht, so versickern alle schriftlichen Medien ohne weiteren Nachhall in dem riesigen Land, in dem es das Feststecken in der Provinz sogar zu einem literarischen Topos gebracht hat. Und: Die Selbstkontrolle, von der Gegenwart internationaler Organisationen inspiriert, nimmt mit zunehmender Entfernung von Moskau ab.

Der schwache Nachhall der Protestbewegung in der russischen Provinz ist also mehreren Faktoren geschuldet: Zum einen der schwachen Ausprägung der Mittelschicht, zum anderen der rein physischen Gegebenheit von Weiten, die man getrost als unendlich bezeichnen kann. Das aktuelle Aeroflot-Magazin bringt die Story eines Datschaerben, der den Behörden seine Stromzahlungen aufdrängen musste, weil das Dorf, obwohl bewohnt, von den Landkarten verschwunden ist.

Petersburg hingegen, das einstmalige „Tor zum Westen“ – und, Ironie des Schicksals, Putins Heimatstadt – ist eine Kunstschöpfung wie Brasilia und, wie es heißt, auf Knochen gebaut. Es ist die Stadt der Aufstände, nicht nur von 1917, sondern auch des dekabristischen von 1825, als sich liberaler Widerstand bildete, der, gescheitert, in der sibirischen Verbannung zu einer Art volksnahem Romantismus wurde. Auf seine Weise in diese Reihe gehört das Selbstbewusstsein, das die Stadt während der Blockade durch die deutsche Wehrmacht (1941 bis 1944) errang, als bis zu einer Million Menschen an Hunger und Kälte starben.

Das Fernsehen kommt überall hin

Der heutige Widerstand allerdings, erzählt mir Ivan Kvasov, ist in Petersburg mehr als in Moskau von den Oppositionsparteien vereinnahmt worden. In Moskau selbst entspreche er eher dem authentischen Unmut der Bürger.

Dieser Unmut ist wohl auch in der Provinz vorhanden. Dass er dort in Form von „Bürgerprotesten“ nachhaltig wirkt, wird jedoch erschwert: von der totalen Einsamkeit (die Einzigen, die sich verlässlich durchschlagen, sind die Mitglieder von Wahlkommissionen) und behördlicher Willkür, die sich umso sicherer fühlt, je weiter weg die zivile Kontrolle ist. Wohin es Printmedien nicht schaffen, wird TV ausgestrahlt, das stets schärfer kontrolliert ist. Der Rest ist Schweigen.

Zur Autorin


E-Mails an: debatte@diepresse.comKatharina Tiwald (geboren 1979) studierte Sprachwissenschaft und Russisch in Wien, Sankt Petersburg und Glasgow. Sie lehrt russische Literatur am Institut für Slawistik der Universität Wien und ist freie Schriftstellerin. 2006 erschien ihr Reiseband „Die erzählte Stadt. Unbekanntes Sankt Petersburg“ bei Herbig. [Dessislaw Pajakoff ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.03.2012)

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