Wie es gelingen konnte, eine Republik in die Diktatur zu lotsen

Vor 80 Jahren eroberten die Nationalsozialisten die Macht in Berlin. Historische Fachzeitschriften widmen sich dem Thema.

Die Frage beschäftigt die Historiker schon seit Jahrzehnten: Wie konnte eine Partei, die bei den Wahlen im Juli 1932 mit 37,4 Prozent zwar zur stärksten Partei wurde, von einer absoluten Mehrheit damit aber doch meilenweit entfernt war, schon ein Jahr später ihre Macht so ausbauen, dass sie eine Republik geradewegs in eine Diktatur lotste? Die Rede ist von der Nationalsozialisten Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP). 80 Jahre nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler durch Reichspräsident Paul von Hindenburg – eine der erbärmlichen Gestalten der deutschen Geschichte – am 30. Jänner 1933 versuchen historische Fachzeitschriften, diese wichtige Frage zu beantworten.

„Geo Epoche“ widmet dem Thema sogar ein Doppelheft: Teil 1 schildert die Vorgeschichte und die ersten 1000 Tage der NS-Diktatur 1933–1936; Teil 2 beschreibt den Weg Hitler-Deutschlands in den Weltkrieg 1937–1939. Beide Hefte bieten journalistische Zeitgeschichtsschreibung allererster Güte – gut lesbar, informativ, trefflich illustriert. Ein kompaktes Porträt Adolf Hitlers führt in das Thema bis zum schicksalhaften 30.Jänner 1933 ein: „Der Sohn eines kleinen österreichischen Beamten, ein Schulversager und haltlos verkrachter Künstler, ein unauffälliger Soldat, gescheiterter Putschist und sozialer Außenseiter mit deutlich neurotischen Zügen regiert ab nun das Deutsche Reich.“

Ja, es ist die unglaubliche Geschichte von Hitlers Karriere, die die Nachgeborenen immer wieder grübeln lässt: Wie konnte das geschehen? Haben Eltern und Großeltern das heraufdräuende Unheil denn nicht sehen wollen? Aber der Cambridge-Historiker Richard Evans, einer der besten Kenner des Dritten Reiches überhaupt, warnt in einem in Heft 2 abgedruckten Interview: „Es ist sehr leicht, im Nachhinein moralische Urteile zu fällen.“ Evans zitiert seinen nicht weniger berühmten britischen Historikerkollegen, den Hitler-Biografen Ian Kershaw: „Er hat einmal geschrieben, dass er nur zu gern glauben möchte, dass er sich widersetzt hätte. Aber er befürchte doch, dass er wahrscheinlich genauso verblendet und hilflos gewesen wäre wie die große Mehrheit der Deutschen damals.“ Seine Generation – Evans ist Jahrgang 1947 –, fährt der Brite fort, habe einfach großes Glück gehabt: „Wir mussten uns nicht jenen schrecklichen Dingen stellen, die unsere Eltern erlebt haben. Deshalb zögere ich, wohlfeile Richtersprüche abzugeben.“

Um auf die Eingangsfrage zurückzukommen, Evans führt sechs Gründe für die gelungene Machtübernahme der Nazis an: Die Machtergreifung wirkte wie ein ganz legaler Prozess; die Demokratie war von rechten und linken Extremisten schon zuvor unterhöhlt worden; Kommunisten und Sozialdemokraten hassten einander mehr, als sie die Nazis verachteten; die Nationalsozialisten zeigten bei ihrem Griff nach der Macht effiziente Brutalität und brutale Effizienz; die Deutschen waren vom demokratischen Experiment zutiefst enttäuscht, Hitler aber konnte bald nach der Machtübernahme auf ökonomische und internationale Erfolge verweisen; die NSDAP 1932 zu wählen war vor allem Ausdruck des Protests und der Unzufriedenheit mit der Demokratie.

Zeitgeschichtlich Interessierten sei auch noch Heft 1/2012 der von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen „Informationen zur politischen Bildung“ empfohlen, das sich ebenfalls dem Aufstieg und der Herrschaft des Nationalsozialismus widmet. Dieses Heft, ebenfalls flott geschrieben und reich bebildert, hat ein einziger Autor verfasst: Professor Michael Wildt von der Berliner Humboldt-Universität, ein anerkannter NS-Spezialist.

E-Mails an: burkhard.bischof@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.12.2012)

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