Assad versucht es jetzt mit der "Tschetschenien-Strategie"

Warum die Zahl der Opfer im syrischen Bürgerkrieg rapide zunimmt. Vier Varianten, wie das Blutvergießen ausgehen kann.

Mehr als 60.000 Menschen sind seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien im Frühjahr 2011 ums Leben gekommen, meldete die UN-Menschenrechtskommissarin Navi Pillay vergangene Woche. Wobei diese Zahl wohl eher geschätzt ist als auf Fakten beruht. Denn wie zählt man die Opfer in einem brutalen, heimtückischen Bürgerkrieg? Sicher ist, dass die Zahl der Opfer von Monat zu Monat immer stärker zugenommen hat. In der Dezembernummer des US-Monatsmagazins „Current History“ gibt Professor Glen Robinson von der US Naval Postgraduate School folgende Zahlen an: In den ersten Monaten nach Ausbruch der Kämpfe betrug die Tötungsrate 4 zu 1: vier getötete Rebellen auf ein getötetes Mitglied von Assads Sicherheitsapparat. Inzwischen beträgt diese Tötungsrate noch 2 zu 1. Dies weist auf bessere Bewaffnung und effektivere Kampfführung der Rebellen hin.

Robinson schreibt, dass Assads Sicherheitsapparat gerade angesichts der zunehmenden Verluste in den eigenen Reihen die russische Kampfstrategie im zweiten Tschetschenien-Krieg (ab 1999) zum Vorbild genommen habe. Kern dieser Strategie war es, massiv und ohne Rücksicht auf zivile Opfer die Luftwaffe gegen urbane Ziele einzusetzen – sie war erfolgreich: Tschetschenien ist heute blutig befriedetes „Kadyrow-Land“. Die syrische Luftwaffe geht heute ähnlich vor: fast kein Tag ohne Meldung von Luftangriffen auf zivile Ziele – seien es Tankstellen, Bäckereien, ganze Wohnbezirke. Auch diese „Tschetschenien-Strategie“ erklärt die rasant ansteigende Zahl der Bürgerkriegsopfer.

Laut Robinson gibt es vier Varianten, wie das Blutvergießen in Syrien enden könne: ein Sieg des Assad-Regimes, ein Sieg der Rebellen, Fortdauer des Bürgerkrieges ohne eine Entscheidung, eine Pattsituation, die in eine Verhandlungslösung mündet. Für ihn wären die ersten beiden Möglichkeiten die schlechtesten: Ein Sieg des Regimes wäre letztlich nur Auftakt zu einer neuen Runde des Bürgerkriegs; ein Sieg der Rebellen könnte zu einem fortgesetzten Blutbad durch Rachemorde und ethnische Säuberungen führen. Ein anhaltender Bürgerkrieg würde die Katastrophe für Syrien weiter verschlimmern und die Gefahr eines Überschwappens der Kämpfe auf die Nachbarn vergrößern. Bleibt als vernünftiger Ausweg nur eine politische Lösung, die es aber erst geben werde, wenn beide Seiten sich bewusst seien, dass sie den Bürgerkrieg verlieren könnten.

Syrien ist dabei nicht der einzige Staat der Region, der zuletzt Horrornachrichten produzierte: Der ganze Nahe Osten und Nordafrika tanzten entlang eines Abgrunds, heißt es in der Sonderausgabe des US-Magazins „Newsweek“ über die großen Themen des Jahres 2013. Von Mali bis Bahrain, wird da aufgezeigt, stehen Regimes und Regierungen unter Druck von religiösen Fanatikern oder aufmüpfigen Bevölkerungsgruppen.

Und doch, meint der französische Islamexperte Olivier Roy im britischen Magazin „New Statesman“, sei es „ein Mythos“ zu behaupten, in der arabischen Welt sei ein „islamistischer Winter“ angebrochen. Ägypten und Tunesien würden nach Wahlerfolgen islamistischer Parteien keineswegs ins Chaos abgleiten, viel mehr lerne man in den beiden Ländern gerade, wie Demokratie funktioniere. Für Roy ist es keineswegs eine ausgemachte Sache, dass die Islamisten in Ägypten und Tunesien mit dem Griff nach totaler Macht erfolgreich sein werden, zu tiefe gesellschaftliche Veränderungen habe der Arabische Frühling bewerkstelligt: „Die Islamisten mögen alte Techniken des Machterhalts anwenden, doch das wird die Bevölkerung nicht davon abhalten, von ihnen Rechenschaft zu fordern.“

E-Mails an: burkhard.bischof@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.01.2013)

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