Seelenspiegel

In der Stimme klingen Leib und Seele zusammen. Wenn ich auf sie achte, beginne ich mit mir und anderen einfühlsamer umzugehen.

BIMAIL VON Dominik Markl SJVadimas, mein litauischer Mitbruder, ist ausgebildeter Kirchenmusiker und Chorleiter. Ihn begeistert die menschliche Stimme, dabei ist er kaum zu bremsen. Auf faszinierende Weise gelangen Impulse vom Gehirn zu den Stimmbändern und versetzen diese beiden Muskeln mithilfe des Atemstroms in Schwingung. Schon deshalb verrät die Stimme sofort, wie uns zumute ist, ob wir ein mulmiges oder wohliges Gefühl im Bauch haben. Der größte Teil des Stimmklanges entsteht jedoch nicht im Kehlkopf, sondern in den Resonanzräumen des Kopfes, der Brust und des Bauches. Große Sänger stellen sich vor, sie atmeten die Luft durch den Boden und die Füße ein, und ihr Ton liege über ihrem Kopf, damit ihr ganzer Körper erklingt. Wer eine Stimmausbildung macht, erfährt, dass es dabei nicht nur um körperliches Training oder musikalische Schulung geht, sondern dass eine ganzheitliche Entwicklung notwendig ist, um die Stimme wohlklingend zu entfalten. Zu Recht gilt die Stimme als „Spiegel der Seele“. Wirklich gestaunt hat Vadimas aber, als ihm ein blinder Musiker über eine neue Altistin im Chor sagte: „Sie hat so ein schönes Gesicht.“ Er habe es an ihrer Stimme gehört.

Als Jesuit pflegt Vadimas eine spezielle Freundschaft mit Jesus. Deshalb kann er sich genau vorstellen, mit welcher Stimme Jesus gesprochen hat. Relativ tief, ruhig und farbig, meint er. Seine Ansicht untermauert er mit einem Wort des Propheten Jesaja, bei dem es über den Diener Gottes heißt: „Er wird nicht schreien und seine Stimme nicht auf der Straße erheben und schallen lassen“ (Jes 42,2). Freilich konnte Jesus mit Volumen und Kraft sprechen, aber das ist etwas anderes als zu schreien. Demagogen wie Hitler, Stalin oder Mao setzten ihr Schreien ein, um die Massen einzuschüchtern und zu indoktrinieren. Auch Jesu Stimme bewegte die Menschen. Ganz anders aber als jene Redner ließ sie viel von seinem Innersten spüren, sodass seine Freunde die emotionale Gewissheit hatten, ihn zu kennen. Die Schafe im Bild vom Hirten folgen ihm aus Intuition, „weil sie seine Stimme kennen“, während sie fremde Stimmen fliehen. Jesu Stimme zu kennen heißt ihn selbst zu kennen, worin eines der Grundthemen des Johannesevangeliums anklingt.

Die Stimme ist der klingende Beweis für die Einheit von Leib und Seele. Mit jedem gesprochenen Wort vermitteln wir durch sie viel mehr von uns als nur den Inhalt des Gesagten, und jeder aufmerksame Zuhörer kann in ihr spüren, wie es uns geht. Vadimas hat mir eine Übung gegeben, um wieder zu mir zu kommen, wenn mich die Anforderungen des Alltags überspannt haben. Allein im Büro oder beim Spazierengehen lege ich eine Hand auf den Bauch, die andere auf die Brust. Dann lasse ich die Luft in meinen Bauch strömen, summe einen für mich angenehmen Ton und spüre, wie der Brustkorb vibriert. Die Übung tut mir gut. Vielleicht hilft sie sogar, beim nächsten Gespräch den richtigen Ton zu finden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.05.2009)

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