Die EU wäre nie erfolgreich gewesen, hätte die Siegermacht Frankreich dem Verlierer Deutschland nicht die Hand gereicht. Das relativiert Bestrebungen nach einer EU à la France.
Es ist keine Selbstverständlichkeit, einem ehemaligen Feind die Hand zu reichen. Für Staatspräsident Charles de Gaulle, der im Ersten und im Zweiten Weltkrieg gegen Deutschland gekämpft hatte, dürfte die Unterzeichnung des Élysée-Vertrags ein emotionaler Kraftakt gewesen sein. Aber so wie Monnet und Schuman erkannte er, dass Revanchismus, wie ihn damals Georges Clemenceau propagierte, kein Fundament für ein befriedetes Europa sein kann.
Zweifellos haben beim Abschluss des Freundschaftsvertrags vor 50 Jahren auch taktische Überlegungen eine Rolle gespielt, doch dieser Schritt entspricht auch einer Großzügigkeit, die sich nur ein selbstbewusstes Land leisten kann. Frankreich hat nur ein Jahrzehnt benötigt, sich als Kriegsgewinner über Hass und Rache hinwegzusetzen. Deshalb ist aus historischer Sicht verständlich, warum Paris danach bestrebt war, die Europäische Union als Abbild der eigenen Staatsordnung und des eigenen Wertesystems zu gestalten.
Es ist freilich ein Wertesystem, in dem Protektionismus und Nationalismus hochgehalten werden, obwohl sie angesichts von Globalisierung und eines europäischen Binnenmarkts an Bedeutung verloren haben. Frankreich hat sich zudem der Illusion hingegeben, dass es möglich ist, den deutschen Nationalismus in einem gemeinsamen Europa aufzulösen, den eigenen aber zu erhalten. Auch wenn dadurch die einstige Großzügigkeit geschwunden ist, darf kein Zweifel aufkommen, dass Frankreich für den Frieden in Europa mehr als die meisten anderen Staaten geleistet hat.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.01.2013)