Wien, der Islam und die normative Kraft des Faktischen

Das Christentum verliert in der Wiener Bevölkerung weiter an Boden. Anders der Islam.

Die Vorstellung dessen, was als Realität bezeichnet wird, steht nicht selten in Spannung zur Realität selbst. In Wien könnte durch die Vielzahl von (katholischen, muss es erwähnt werden?) Kirchtürmen leicht die religionssoziologische Realität verstellt sein. So bestimmend der Einfluss der katholischen Kirche auf Politik, Kunst und Wirtschaft über Jahrhunderte war, so sehr schwindet seit Jahrzehnten die „Geschäftsbasis“ dieses Modells.

Das zeigen unzweifelhaft alle Statistiken. Die Zahl der Kirchenmitglieder geht zurück. Der ganz große Aderlass aber scheint vorbei, wie eine am Dienstag publik gewordene Studie feststellt. Dennoch, das Hochrechnen für die nächsten drei Jahrzehnte sieht in einem von mehreren Szenarien den Anteil jener, die ohne religiöses Bekenntnis bleiben, sogar größer als den Anteil der Katholiken. Jedenfalls wird dann aber nur noch jeder Dritte, der in Wien lebt, Katholik sein. Die amtliche Kirchenführung hat auf diese Entwicklungen viel zu spät reagiert – und dann auch noch viel zu zaghaft.

Denn im Wesentlichen finden sich in Wien noch immer dieselben Strukturen wie zu den Hochzeiten des Katholizismus, als 80 und mehr Prozent der Bevölkerung Kirchenmitglieder waren. Und als es noch eine ausreichende Zahl von Priestern gab. Das Zusammenlegen von Pfarren, wie es Kardinal Christoph Schönborn wünscht, gestaltet sich in der Praxis extrem schleppend. Und hat mangels entschiedenen Vorantreibens für eine Verlängerung der ohnehin kaum zu überschätzenden Verunsicherung an der Kirchenbasis, bei den unentgeltlich mitarbeitenden Laien, aber auch den Profis, den Pastoralassistenten und den geweihten Amtsträgern, den Pfarrern also, gesorgt. Eine Beschleunigung des Projekts durch klarere, dezidiertere Vorgaben zur Zusammenarbeit und durch (huch!) mehr Druck von oben erscheint unumgänglich. Selbst wenn Kardinal Schönborn viel beschäftigt und fast schon öfter in Rom oder anderswo im Ausland als in seiner Diözese anzutreffen ist.

Hausaufgaben haben auch die Vertreter des Islam – immerhin wird sich der Anteil der Muslime in rund 30Jahren fast verdoppeln – zu erledigen. Dagegen muten Pfarrzusammenlegungen fast läppisch an.

E-Mails an:dietmar.neuwirth@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.11.2014)

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