Die sabotierte Revolution

Ein Jahr nach Mubaraks Sturz haben die Ägypter noch keine freie Gesellschaft erreicht.

Die Freude war unermesslich, die Hoffnungen für die Zukunft schienen riesengroß, als vor einem Jahr Ägyptens Machthaber Mubarak gestürzt wurde. Hunderttausende Ägypter waren 18 Tage lang auf die Straße gegangen, hatten aus Leibeskräften protestiert, ihre Gesundheit und ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um den verhassten Autokraten nach 30-jähriger Herrschaft zum Abdanken zu zwingen. Doch in 18 Tagen macht man keine Revolution. In 18 Tagen kann man nur schwer ein Regime aushebeln, das sich jahrzehntelang in allen Bereichen des Lebens festgekrallt hat. Vor allem dann, wenn dieser Umbruch hintertrieben wird.

Vor einem Jahr war in Ägypten so etwas wie eine Revolution im Gang. Doch dann zog die Führung der Streitkräfte die Notbremse. Sie fürchtete, gemeinsam mit Mubarak weggespült zu werden, wenn sie ihn und seinen Clan nicht rasch absetzt. Die Militärs hatten viel zu verlieren: politisch und vor allem wirtschaftlich. Denn die Streitkräfte halten beachtliche Teile der ägyptischen Wirtschaft unter ihrer Kontrolle: von Waffenfabriken über Textilindustrie bis hin zur Lebensmittelproduktion. Und bei diesen Geschäften will man sich nicht von einer zivilen Regierung in die Karten schauen lassen.

Nun ist dem Militär ein mächtiger Mitbewerber erwachsen, im Kampf um die Verteilung von Ressourcen und politischer Macht: Die Partei der islamistischen Muslimbruderschaft hat bei den Parlamentswahlen gesiegt. Die Organisation gibt sich moderater als früher, ist intern aber äußerst autoritär strukturiert.

Die nächsten Monate werden zeigen, wie die Vision der Muslimbrüder und des Militärs für ein neues Ägypten aussieht. Viele Ägypter haben vor einem Jahr ihr Gefühl der Würde wiedergewonnen und die Freiheit, erstmals bei demokratischen Wahlen abstimmen zu dürfen. Eine wirklich freie und gerechtere Gesellschaft haben sie aber noch nicht erreicht.

wieland.schneider@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.02.2012)

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