Tunesien ist die Lösung nicht nur für Ägypten

Die säkulare Freiheitsbewegung, die in Nordafrika Fuß fasst, lässt auf Alternativen zur Herrschaft der Islamisten hoffen. Doch das Risiko eines Rückschlags ist groß.

Die Parole könnte zum Label einer neuen Ära werden: „Tunesien ist die Lösung.“ Die jungen Leute, die in Ägypten auf die Straße gehen, um das Mubarak-Regime zu stürzen, konterkarieren so die Parole der Moslembrüder, die seit Jahrzehnten mit dem Schlachtruf „Islam ist die Lösung“ gegen das autokratische Regime zu Felde ziehen.

„Tunesien ist die Lösung“ heißt: Die Alternative zu den Autokraten ist nicht ein islamistisches Regime, sondern eine säkulare Freiheitsbewegung. Bisher hatten Autokraten wie Ben Ali in Tunesien und Mubarak in Ägypten, aber auch das saudische Königshaus, ihre Herrschaft damit legitimiert, dass die Alternative das Chaos oder die Herrschaft der Islamisten wäre. Ein Argument, das auch für die Staatenwelt überzeugend war.

Tunesien und jetzt Ägypten lassen erstmals die Hoffnung aufkeimen, dass es säkulare Alternativen geben könnte. Die jungen Leute, die ihre Angst vor den Despoten abgeschüttelt haben, riskieren ihr Leben nicht für die Religion, sondern für die Möglichkeit, ihre individuellen Vorstellungen von einem geglückten Leben zu verwirklichen.

Es wäre naiv zu glauben, dass mit dem tunesischen Aufstand in der islamischen Welt von einem Tag auf den anderen der Weg zur Etablierung liberaler Demokratien nach westlichem Vorbild frei wäre. An dieser Naivität ist letztlich auch die Nahost-Politik der Bush-Administration gescheitert: Die Neocons haben ernsthaft geglaubt, ein erzwungener „regime change“ in Schlüsselstaaten würde eine groß angelegte Demokratisierung im Nahen Osten in Gang setzen.

Aber es wäre ebenso naiv zu glauben, dass die Strategie, Autokraten um jeden Preis zu stützen, um islamistische Machtübernahmen zu verhindern, einfach fortgesetzt werden könnte. Die alternativlose Frontstellung zwischen autokratischen und islamistischen Machtansprüchen ist zwar ein besser kalkulierbares Risiko als der unkontrollierte Machtverlust der Despoten, aber eben auch ein Risiko: Sie ermöglicht den Islamisten, einen Märtyrerbonus zu lukrieren.

Es ist keine Übertreibung, von einem historischen Moment zu sprechen, und es ist ein kritischer, ein gefährlicher Moment: In Ägypten ist das Risiko, dass die Islamisten das Ruder übernehmen, viel größer als in Tunesien, sie können auf eine stärkere Verankerung in der Bevölkerung zählen als in den Maghreb-Staaten; auch die Gefahr, dass mit al-Qaida vernetzte Gruppen durch Terrorattacken das Chaos vergrößern, ist erheblich. Für den Westen wäre entscheidend, eine Figur wie Mohamed ElBaradei als Alternative zu haben. Der Nobelpreisträger hat sich in die Auseinandersetzung auf der Straße begeben, offensichtlich, um seine Glaubwürdigkeit bei den Aufständischen zu stärken.

Eines haben der tunesische und der ägyptische Aufstand gemeinsam: Sie drängen die westliche Welt zu einem differenzierteren Blick auf die „islamische Welt“. Man könnte beide Bewegungen als Aufstand der bisher schweigenden Massen lesen, die ein Leben führen wollen wie der Rest der Welt auch. Ihr Werteensemble wird nicht kollektivistisch-religiös geprägt, sondern individualistisch-konsumorientiert. Auf viele junge Menschen in den islamischen Ländern wirken die Verheißungen des „westlichen“ Lebensstils stärker als jene der Religion.


Wer in unseren saturierten Breiten über diese Entwicklung kulturpessimistisch die Nase rümpft, sollte nicht vergessen, dass die Entkoppelung von Politik und Religion, die zu Recht als eine der großen Errungenschaften des Westens gilt, auch bei uns nicht durch die massenhafte Lektüre der französischen Aufklärer, nicht nur durch den Zugang der Massen zu höherer Bildung, sondern auch und vor allem durch Massenkonsum erreicht wurde. Wer sich über die Auswüchse unserer „Konsumreligion“ beklagt, sollte zumindest anerkennen, dass es sich, anders als bei den forcierten Ausprägungen des Monotheismus, zumindest um eine friedliche Religion handelt. Wo Geld fließt, fließt kein Blut.

Wir haben in den vergangenen Wochen erlebt, dass sich sprichwörtlich aus dem Nichts eine Situation ergeben hat, die entweder in eine lang ersehnte Zukunft oder in eine lang befürchtete, blutige Vergangenheit führt. Für den Westen steht dabei so viel auf dem Spiel wie bei der „Zeitenwende“ 1989.

E-Mails an: michael.fleischhacker@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.01.2011)

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