Schulen gründen gegen das Diktat des Mittelmaßes

Gäbe es in diesem Land liberales Denken, gäbe es unsere Schuldebatte nicht mehr. Aber die Sehnsucht nach politisch hergestellter Gleichheit scheint unstillbar zu sein.

Es gibt kein politisches Feld, in dem sich die Diskutanten so einig über die Wichtigkeit des Gegenstandes und gleichzeitig so uneinig darüber sind, was denn zu tun sei, wie beim Großthema „Bildung“. Seit wir in einer sozialen Ordnung leben, in der der gesellschaftliche Platz, den der Einzelne einnimmt, nicht von Geburt an determiniert ist und nur noch durch Gnadenakte übergeordneter Instanzen verändert werden kann, ist Bildung der Schlüssel zu dem, was wir „soziale Mobilität“ nennen. Früher hätte man dazu „Aufstieg“ gesagt, aber die Nomenklatur der politischen Korrektheit hat alles, was nach Unterschied klingt, aus der Alltagssprache eliminiert.

Darin zeigt sich eine der Paradoxien dieser Debatte: Dieselben Aktivisten, die sich mit glaubwürdiger Leidenschaft für Aufstiegsmöglichkeiten von Unterprivilegierten einsetzen, lehnen alles ab, was einen Unterschied macht. Sie verstehen unter „Chancengleichheit“ identische Ergebnisse und verstehen nicht, dass Chancengleichheit naturgemäß das Gegenteil davon liefert: Wenn ein Hochbegabter und ein weniger Begabter über die gleichen Entfaltungsmöglichkeiten verfügen, wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erheblichen Unterschieden kommen. Das mag man ungerecht finden, ändern kann man es nicht. Es sei denn, man tut, was linke Ideologen gedacht und leider auch in die Tat umgesetzt haben: Man erzwingt eine Einheitlichkeit der Ergebnisse. Die zeichnen sich dadurch aus, dass alles gleich schlecht ist, dass alle gleich arm sind und dass diejenigen, die für diese Art von Gleichheit sorgen, sich über alle anderen erheben. Das sind im Bild des Schweinekommunismus, den George Orwell in der „Animalfarm“ gezeichnet hat, diejenigen, die „more equal“ sind.

Eine solche Gesellschaftsordnung will heute niemand mehr. Aber die Sehnsucht nach politisch hergestellter Gleichheit scheint unstillbar zu sein. Sie ist ähnlich hartnäckig wie die Dünkelhaftigkeit von Menschen, die sich zwar „bürgerlich“ nennen, die aber nichts anderes tun und wollen, als die Entfaltungsfreiheit des Einzelnen, die den Kern jeden bürgerlichen Programms ausmachen müsste, auf ihresgleichen zu beschränken.

Die Unausrottbarkeit dieser beiden ideologischen Fantasien verhindert in Österreich jede vernünftige Schuldebatte. Linke Ideologen tun so, als ob mit der Einführung der Gesamtschule eine Art Begabungsgarantie verbunden wäre. Bürgerliche Dünkelträger verharren in der Idee, dass ein städtisches Gymnasium, das ausschließlich dazu dient, die eigene Brut nicht mit Ausländerkindern in Kontakt kommen zu lassen, irgendetwas mit Differenzierung zu tun hätte.

Gäbe es in diesem Land nur einen Funken von liberalem Denken, gäbe es unsere Schuldebatte nicht mehr. Die Bürger würden über Bildungsschecks in einheitlicher Höhe verfügen – Chancengleichheit. Mit diesen Schecks bezahlten sie jene Bildungseinrichtungen, die sie für den Begabungsgrad ihrer Kinder für angemessen halten – Ideenwettbewerb.

Weil aber in Österreich „liberal“ nur ein Synonym für Standpunktlosigkeit ist oder für die Unlust, sich mit moralischen Fragen auseinanderzusetzen, brauchen wir die Krücken, mit denen Bildungswissenschaftler, Pädagogen, besorgte Eltern und wohlmeinende Politiker in Richtung Schulzukunft stolpern. Es ist schon eine böse Ironie, die es zulässt, dass die Debatte über Institutionen, in denen Menschen lernen sollen, selbstbewusst, selbstbestimmt und kraftvoll ihr Leben zu leben, ausschließlich von Kleinmut und Parteipolitik bestimmt wird.

Um in der Entwicklung eines leistungsfähigen Schulsystems weiterzukommen, müsste man die Schulen von der Politik, die Lehrer von der Gewerkschaft und die Schüler von den Beschränkungen ihrer sozialen Herkunft befreien, die noch immer die Bildungswege unserer Kinder bestimmen.

Es ist niemand in Sicht, der das von oben nach unten leisten könnte. Das ist auch der Grund dafür, dass der Ruf nach neuen Formen des politischen Engagements laut wird. Vielleicht sollten alle, die sich bereit erklären, eine neue politische Partei zu finanzieren, ihr Geld in die Gründung von Schulen investieren, in denen Kinder dazu erzogen werden, sich gegen die Diktatur des Mittelmaßes zur Wehr zu setzen, von der dieses Land beherrscht wird.

E-Mails an: michael.fleischhacker@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.07.2011)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Potenziale nicht ungenutzt lassen
Schule

Potenziale nicht ungenutzt lassen

Gesamtschule. Derzeit bleiben die Fähigkeiten tausender Kinder unentdeckt – aus Angst vor der „Gleichmacherei“.
Differenzierung statt Durchschnitt
Schule

Differenzierung statt Durchschnitt

Echtes Modulsystem. Das Modell muss flexibel sein, damit schwächere und talentierte Schüler profitieren.
Lehrplaene radikal entruempeln
Schule

Lehrpläne radikal entrümpeln

Weniger Stoff. Schüler müssen vor allem lernen, wie sie Wissen anwenden. Der Fächerkanon gehört reformiert.
Lehrer strenger auswaehlen
Schule

Lehrer strenger auswählen

Lehrerausbildung. Es braucht strenge Aufnahmekriterien im Studium, bessere Fachdidaktik und mehr Unterstützung.
Raum dritter Paedagoge
Schule

Der Raum als dritter Pädagoge

Raumkonzepte. Mehr als nur ein Speisesaal: Vor allem die Ganztagsschule verlangt nach neuen Räumlichkeiten.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.