Naturkatastrophen fördern das Gute und das Schlechte in uns. Neben der Schaulust und den großen politischen Gesten gibt es echte Solidarität von selbstlosen Helfern.
Deichgraf wurde der SPD-Politiker Matthias Platzeck genannt, als er 1997 bei der großen Oder-Flut medienwirksam den Eindruck zu vermitteln versuchte, durch seine bloße Anwesenheit verheerende Dammbrüche zu verhindern. Der bis dahin kaum bekannte Minister für Umwelt im Land Brandenburg wurde damals durch eine Reihe von Fernsehauftritten bundesweit berühmt. Zwar brachen dennoch einige Deiche, der Schaden allein in Deutschland betrug hunderte Millionen Euro, aber Platzecks Karriere erhielt einen Schub. Seit 2002 ist er Ministerpräsident seines Landes, kurzfristig stieg er sogar zum Chef der Sozialdemokraten auf.
Jeder Lokalpolitiker, jeder Ministerpräsident ist gut beraten, bei Naturkatastrophen Einsatzwillen zu zeigen. Zwar hat noch kein Landeshauptmann live am Unglücksort auch nur einen Zentimeter am Pegelstand senken können (entscheidend wäre Prävention, ein vernünftiger Flächenwidmungsplan), aber ein Macher zeigt dadurch: Wir gehören zusammen, wir packen das alle in einer gemeinsamen Anstrengung. Das überzeugt die Opfer wie auch die Gaffer und lenkt zudem zynischerweise von den Mühen des politischen Alltags ab. Derzeit vergessen auch jene Lobbyisten, die sich für die Wehrpflicht eingesetzt haben, nicht auf den Hinweis, wie gut es sei, dass wir dieses Bundesheer haben.
Deichgraf, das ist ein Begriff, der seit der von Theodor Storm 1888 vollendeten Novelle „Der Schimmelreiter“ mit Angstlust besetzt ist. Ihr Protagonist Hauke Haien trotzt dem Meer durch gewaltige Dammbauten Land ab, doch menschliches Versagen lässt den Deich bei einer schweren Sturmflut dennoch brechen. Die Familie des faustischen Tatmenschen stirbt. Er stürzt sich mit seinem Schimmel in die Flut und sühnt so für lässliche Versäumnisse mit ungeheurer Wirkung.
Katastrophen bringen sowohl das Gute als auch das Schlechte in uns hervor. Zuerst zum Positiven, zu all den tausenden Helfern, die seit Tagen im Dauereinsatz sind und zupacken, die nicht fragen, was ihnen das bringt, sondern freiwillig dem Nachbarn beistehen: Durch sie hat es wieder einen hohen Wert, das Wort Solidarität, das sonst beinahe schon in Verruf gekommen ist, von manchen sogar Nächstenliebe genannt wird oder, etwas neutraler, Altruismus. Man denkt, wie das Wort „alter“ sagt, an den anderen und opfert seinen Egoismus im Ausnahmezustand der Allgemeinheit. Das lässt hoffen – es geht auch anders.
Wo Hilfsbereitschaft aufkommt, da sind auch die modernen Deichgrafen nicht weit, die sich von ihren Spin-Doktoren raten lassen, ob ein Auftritt vor den Kameras im Ölzeug und beim Schöpfen angebracht sei oder doch nur eine Meldung, ganz ohne Foto, dass sich der Kanzler, Vizekanzler oder Minister „vor Ort“, nah am Unglück befinde, mit dem spontanen Versprechen, die Betroffenen nicht im Regen stehen zu lassen.
Ignorieren gilt nicht, dazu ist die mediale Aufmerksamkeit bei solch aufwühlenden Ereignissen zu groß. Denn wie sich soeben bei einer weiteren Rekordflut zeigt, sind wieder einmal wir Gaffer ganz vorn dabei, allen voran die Medien. Wir starren auf Ticker, die von neuen Höchstständen berichten und die sich nahende Gefahr unausweichlich als Tragödie anzeigen. Um das schlechte Gewissen zu beruhigen, werden nun Spendenkonten eingerichtet, und das ist auch gut so. Geben wir, die wir von Sankt Florian wieder einmal beschützt worden sind, reichlich. Dazu muss man sich nicht einmal vorstellen können, wie unfassbar das Unglück für jene vielen Opfer ist, die nun große materielle und auch persönliche Verluste erlitten haben oder sogar Tote beklagen. Herzlos wäre, wer jetzt sagte, „selbst schuld, dass die dort überhaupt gebaut haben“.
Neid und Missgunst werden mit dem Abflauen ohnehin rasch wieder aufkommen – als negative Wirkung nach der kurzen Phase der Solidarität. Wie viel an Entschädigung bekommt der eine Nachbar? Wie viel der andere? Das, mit Verlaub, ist nun wirklich die Sache der modernen Deichgrafen, die sich bei der Katastrophe ins Bild drängen. Dafür zu sorgen, dass es bei der Schadensabwicklung gerecht zugeht, ist nicht nur der Job von Versicherungen, sondern auch das Privileg umsichtiger Politik.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.06.2013)