Erdoğan will ein zusammenhängendes Kurdengebiet in Syrien verhindern und einen überragenden Wahlsieg einfahren. Der Preis dafür ist hoch.
Es ist ein Strudel der Gewalt, in den die Türkei hinabgezogen wird: Attentate in Istanbul, Überfälle im Osten des Landes, Zusammenstöße in vielen Städten. Was als angeblicher Feldzug gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) in Syrien begonnen hat, hat mittlerweile zu Brandherden in der gesamten Türkei geführt. Wer dabei für welche Taten verantwortlich ist, ist schwer zu durchschauen. Die kurdische Untergrundorganisation PKK hat sich zu einigen der Aktionen bekannt, zu anderen jedoch nicht. Vor allem die kleine linksextreme Gruppe Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) dürfte auf den immer schneller fahrenden Zug der Gewalt aufgesprungen sein und einige der Anschläge verübt haben.
In all dem Chaos stellt der Krieg gegen den IS für die türkische Regierung bestenfalls eine Nebenfront dar. Die Hauptfront sieht die Führung in Ankara an anderer Stelle: im Kampf gegen die PKK und in der Eroberung einer absoluten Mehrheit im türkischen Parlament. Das ist ein riskantes Machtspiel. Denn es gefährdet nicht nur den Frieden in der Türkei, sondern auch den Erfolg im Vorgehen gegen den IS.
Als eine der Maßnahmen gegen die Jihadisten hat Ankara angekündigt, eine „Schutzzone“ im Norden Syriens einzurichten. Die USA, die bei dem Projekt anfangs mit an Bord schienen, signalisieren mittlerweile Zurückhaltung. Die Zone soll durch Luftangriffe IS-frei gemacht werden und dann syrischen Flüchtlingen als Rückzugsort dienen. Die Kontrolle am Boden übernehmen mit der Türkei und den USA verbündete syrische Rebellen.
Auf den ersten Blick scheint das eine gute Idee zu sein. Doch auf den zweiten Blick wird klar, dass der Plan nicht nur gegen den IS gerichtet ist. Die eigentliche strategische Überlegung dahinter hat der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdoğan, schon im Juni klargestellt: Er werde unter keinen Umständen ein kurdisches Staatsgebilde im Norden Syriens zulassen, sagte er damals. Tage zuvor haben die syrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheiten mit einer verbündeten arabischen Gruppe der Freien Syrischen Armee die Grenzstadt Tal Abyad vom IS befreit.
Die syrischen Kurden konnten damit ihre bisher voneinander getrennten Kantone Kobane und Cizire miteinander verbinden. Nun ist nur noch der Kanton Efrin im äußersten Westen vom Rest des de facto autonomen Gebiets abgeschnitten. Dazwischen liegt ein Streifen, der vom IS beherrscht wird. Genau hier soll die von Ankara gewünschte „Schutzzone“ eingerichtet werden, um den IS hinauszuwerfen – aber vor allem, um zu verhindern, dass Kurdenmilizen dort einrücken und auch Efrin an ihre anderen beiden Kantone anbinden können. Was Ankara an dieser Vorstellung so stört: In Syriens Kurdengebieten regiert eine Schwesterpartei der PKK. Und die kurdischen Guerillatruppen aus der Türkei haben bisher Syriens Volksverteidigungseinheiten unterstützt. Die türkischen Luftangriffe auf die PKK schwächen so auch die kurdischen Milizen in Syrien – und damit aber auch den Kampf gegen den Islamischen Staat.
Trotz des seit 2013 laufenden Friedensprozesses trauten die türkische Regierung und die PKK einander nie wirklich über den Weg. Um ein Abgleiten der Türkei ins Chaos zu verhindern, müssen aber beide Seiten so rasch wie möglich die Feindseligkeiten beenden. Egal, wie viele Bomben auch noch auf die PKK abgeworfen werden: Die türkische Regierung wird die Kurdenfrage nicht militärisch lösen können. Eine Rückkehr zu Verhandlungen ist alternativlos.
Um den politischen Prozess am Leben zu erhalten, hätte die Regierung durchaus einen wichtigen Ansprechpartner im Parlament sitzen: Selahattin Demirtaş, Chef der linken, prokurdischen HDP. Doch hier wird Erdoğans zweites – gefährliches – Machtkalkül schlagend: Der Erfolg der HDP hat bei der jüngsten Wahl Erdoğans Partei die absolute Mehrheit verbaut. Sollte die HDP also verboten oder ihre wichtigsten Funktionäre wegen PKK-Nähe vor Gericht gestellt werden, könnte Erdoğans AKP bei vorgezogenen Wahlen ein besseres Resultat erzielen. Es ist ein riskantes Spiel, das der türkische Präsident spielt, während sein Land in Gewalt versinkt.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.08.2015)