Die britische Regierungschefin will mit Neuwahlen den Rücken für die EU-Verhandlungen freibekommen. Spaltet sie damit ihr Land noch weiter?
In Großbritannien verkommt die Demokratie seit einigen Jahren zu einem taktischen Spiel. Einst pokerte ein an sich proeuropäischer Premierminister – David Cameron – mit dem Brexit-Referendum, um an der Macht zu bleiben. Nun pokert seine etwas weniger proeuropäische Nachfolgerin – Theresa May – mit Neuwahlen, um für den einst von ihr selbst abgelehnten EU-Austritt den Rücken freizubekommen. Kein Lord aus dem Oberhaus, keine rebellische schottische Regierungschefin und schon gar kein europäisch gesinnter Parteifreund soll ihr mehr in die Quere kommen. Ausgestattet mit einem starken Mandat, so hofft sie, wird sie bei diesen schwierigen Verhandlungen weniger Rücksicht auf Einzelinteressen nehmen müssen.
Der überraschende Schritt der Premierministerin ist nachvollziehbar. Er ist auch legitim, da sie sich selbst noch nie einer Volkswahl gestellt hat. Doch er ist auch zu kritisieren, weil es hier um ein etwas einseitiges machtpolitisches Kalkül geht. May kann derzeit mangels starker Opposition damit rechnen, dass sie in ihrem Amt klar bestätigt wird. Sie braucht sich nicht 2020 einer Wahl zu stellen, unmittelbar nachdem sie sich mit den Brexit-Verhandlungen innen- wie außenpolitisch die Hände schmutzig gemacht hat, sondern erst zwei Jahre später, wenn sich vieles wieder beruhigt haben dürfte.
Dieses taktische Manöver birgt zudem Risken: May geht rein von der Stimmungslage in den politischen Eliten des Landes aus. Viele Briten aber, die für den EU-Austritt gestimmt haben, wollen, dass die Premierministerin ihr Versprechen „Brexit bleibt Brexit“ endlich einlöst. Für Verzögerungen – und solche lassen sich wegen dieser Wahl nicht vermeiden – dürften sie wenig Verständnis aufbringen.
May mag damit kalkulieren, dass die negativen Effekte des Brexit noch nicht spürbar sind und es für sie komfortabler ist, noch vor den möglichen Verwerfungen des EU-Austritts wählen zu lassen. Doch übersieht die Premierministerin, dass es beispielsweise in Wirtschaftskreisen bereits jetzt große Skepsis vor einem von ihr bevorzugten „Hard Brexit“ (Ausscheiden aus dem EU-Binnenmarkt) gibt. Diese Befürchtungen nehmen zu und werden wohl noch einige konservative Wähler ins Lager der EU-freundlichen Liberalen treiben. Außerdem gibt es viele Briten, die nach dem aus ihrer Sicht verlorenen Referendum auf eine Korrektur hoffen.
Die Regierungschefin lässt zu, dass sich die Bevölkerung erneut mit dem kontroversen Europa-Thema befasst. Nach dem jüngsten Tory-Wahlkampf 2015 und dem Referendumswahlkampf 2016 werden nun auch diese Unterhauswahlen 2017 von der Frage der künftigen Kooperation mit der EU dominiert werden. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass diese Wahlen das Land noch tiefer spalten. Es gibt eine Kluft zwischen heimatverbundenen Nationalisten, Globalisierungsgegnern, radikalen Ausländerfeinden und Traditionalisten auf der einen und internationalistisch denkenden, proeuropäischen Kräften, die zwischen britischer Tradition und europäischer Zusammenarbeit keinen Widerspruch sehen, auf der anderen Seite. Es gibt eine Kluft zwischen England und Schottland, aber auch eine zwischen Alt und Jung.
Statt ein Land vor den Scheidungsverhandlungen mit 27 anderen Regierungen zu einen, werden diese Wahlen die britische Gesellschaft noch einmal aufrütteln. Statt zurück zu einem pragmatischen Weg zu finden, wie Großbritannien eigenständig, aber partnerschaftlich mit der EU koexistieren kann, werden die Gräben jenseits des Ärmelkanals tiefer ausgehoben. Das wird auch in Brüssel registriert. Und es ist zu erwarten, dass Mays taktisches Spiel dazu führt, dass die bis 2019 abzuschließenden Gespräche auch von EU-Seite noch um ein Stück härter geführt werden.
EU-Ratspräsident Donald Tusk hat den britischen Weg mit einem Hitchcock-Film verglichen, bei dem sich die Spannung immer mehr aufbaut. Das Bild mag stimmig sein, insbesondere, da jeder weiß, dass sich Spannungen auch einmal entladen müssen. Theresa May wird aus heutiger Sicht die Wahlen gewinnen, ihr taktischer Schachzug könnte aufgehen. Aber außer für sie selbst wird er für niemanden etwas vereinfachen.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.04.2017)