Den Putschversuch hat die regierende AKP ganz für sich genutzt. Aber je rigider sie auftritt, desto entschlossener zeigt sich auch die Opposition.
Ein Jahr nach der blutigen Putschnacht ist die Türkei nicht mehr dasselbe Land wie vorher. In dieses eine Jahr hat die Regierung derart viele Ereignisse hineingepresst, dass zeitweise selbst erfahrene Beobachter den Überblick verloren haben. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat mit seiner AKP ein eisernes Regime durchgesetzt und sich dabei gebetsmühlenartig auf den Kampf gegen die Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen bezogen, der hinter dem Coup stecken soll. Innerhalb eines Jahres sind über 50.000 Menschen in Haft gelandet, dafür haben die Behörden in einigen Gefängnissen Platz gemacht, indem sie verurteilte Kriminelle entließen.
Etwa 150.000 Staatsbedienstete haben ihre Arbeit verloren. Was das heruntergebrochen auf die Einzelschicksale bedeutet, kann man sich ungefähr vorstellen. Die freie Presse leidet in der Türkei wie in kaum einem anderen Land. Der „Welt“-Korrespondent Deniz Yücel wird seit über 150 Tagen ohne Anklage festgehalten, der Aufdeckerjournalist Ahmet Şık sitzt seit Dezember ebenfalls ein, unter anderem wird ihm vorgeworfen, Propaganda für die Gülen-Bewegung gemacht zu haben. Şık hat in der Vergangenheit zu den schärfsten und lautesten Gülen-Kritikern gehört, die aktuellen Vorwürfe erscheinen daher wie aus einem Kabinett der Absurditäten.
Dutzende demokratisch gewählte Vertreter der prokurdischen HDP hat die Regierung im vergangenen Jahr abgesetzt, die Doppelspitze der Partei ist im Gefängnis. Das Militär wurde neu strukturiert, so auch das Bildungswesen, die Justiz, die Wiedereinführung der Todesstrafe scheint kein Tabu mehr zu sein. Als mittelbare Folgen der Putschnacht haben sich die Beziehungen der Türkei zu mehreren EU-Ländern, auch zum so wichtigen Deutschland, massiv verschlechtert. Europäische Touristen bleiben aus, die Zukunft der von österreichischen Archäologen maßgeblich ausgearbeiteten Ausgrabungsstätte Ephesos bleibt offen, denn die Wissenschaftler haben kein Visum erhalten.
Darüber hinaus musste Ankara etliche Terroranschläge verkraften und geriet in den Sog nahöstlicher Konflikte von Syrien bis Katar. Beim Referendum, das im April über die Bühne ging, instrumentalisierte die AKP die Putschnacht und den Kurdenkonflikt für ihre Zwecke.
Im April haben sich schließlich 51,4 Prozent der Wähler dafür ausgesprochen, die Türkei gemäß dem Vorschlag der AKP bis zum Jahr 2019 in eine Präsidialrepublik umzuwandeln – mit weitreichenden Machtbefugnissen für das Staatsoberhaupt. Das ist zumindest das offizielle Ergebnis, denn die Opposition berichtet von massiver Wahlfälschung. Fair waren die Ausgangsbedingungen während des Wahlkampfs jedenfalls nicht, und tatsächlich hat sich in den vergangenen Monaten gezeigt, dass die aktuellen Entwicklungen selbst der AKP-Stammwählerschaft nicht ganz geheuer sind. Die Türkei ist eben nicht nur Erdoğan, wie man seit dem Putschversuch allzu leicht glauben könnte.
Seit einem Jahr setzt die türkische Opposition Kräfte frei, die nach den Gezi-Park-Protesten 2013 verloren schienen. Parteien und Gruppen schließen sich zusammen, die sonst die Straßenseite wechseln, wenn sie einander sehen. Je aggressiver und rigider die Regierung wird, desto entschlossener geben sich ihre Gegner. Der „Marsch für Gerechtigkeit“, für den Oppositionschef Kemal Kılıçdaroğlu zu Fuß von Ankara nach Istanbul gegangen ist und Millionen mobilisiert hat, ist nur das jüngste Beispiel. Fast täglich haben im vergangenen Jahr in irgendeiner türkischen Stadt Demonstrationen gegen die Regierung stattgefunden: Es waren Menschenrechtler, Frauenrechtler, Gewerkschafter, Lehrer, Akademiker, Studenten und auch solche, die von der Entlassungswelle betroffen waren, wie etwa die Professorin Nuriye Gülmen und der Lehrer Semih Özakça, die seit Wochen unter großer öffentlicher Anteilnahme hungerstreiken.
Öffentlich zu protestieren heißt in der Post-Putsch-Türkei, sich in Gefahr zu begeben, verhaftet oder denunziert zu werden. Das schreckt die vielen Regierungsgegner aber nicht ab. Und deswegen ist die Türkei noch nicht hoffnungslos verloren.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.07.2017)