Leitartikel

Geisel gefällig? Erdoğan zieht einen perfiden Basar mit Gefangenen auf

Der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdoğan.
Der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdoğan.(c) APA/AFP/ADEM ALTAN
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Die AKP-Regierung sammelt Häftlinge, um die Auslieferung mutmaßlicher Gülenisten im Exil zu erzwingen. Das darf sich Europa nicht gefallen lassen.

Was zuerst der deutsche Noch-Außenminister, Sigmar Gabriel, offensiv und direkt geäußert hat, übernehmen immer mehr Politiker und seriöse Medien in ihren Wortschatz: Geiselhaft. Bei Gabriel ging es um den in der Türkei inhaftierten deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel, dem Ankara Terrorpropaganda vorwirft. Die Türkei halte Yücel „als Geisel in Gefangenschaft“, sagte Gabriel also. Nur wenige Wochen zuvor hatten Insider aus dem Auswärtigen Amt weitererzählt, dass der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdoğan, Gabriel ein informelles Angebot unterbreitet habe: Yücel im Austausch gegen zwei türkische Generäle, die in Deutschland Asyl beantragt haben und die Teil des gescheiterten Putschs vom 15. Juli 2016 sein sollen. Die Regierung in Ankara wirft den beiden vor, mit dem in den USA lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen in Kontakt zu stehen, den sie für den Drahtzieher des Coups hält.

Von Geiselhaft berichten nun auch US-amerikanische Medien in Zusammenhang mit Andrew Brunson, einem presbyterianischen Missionar, der seit Anfang der 1990er in der Türkei lebt. Brunson wurde vergangenen Oktober verhaftet, die Behörden werfen ihm die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit vor, zudem soll er der Gülen-Bewegung nahestehen (ein evangelikaler Missionar als Teil einer islamischen Missionsbewegung?). US-Präsident Donald Trump hat mehrmals die Freilassung von Brunson verlangt. Jüngst kam dazu ein Gegenvorschlag aus Ankara: Die USA sollen Gülen ausliefern, dafür bekommen sie Brunson zurück. Zuvor hat die Türkei offenbar versucht, für Brunson Reza Zarrab herauszuverhandeln, einen iranisch-türkischen Geschäftsmann mit exzellenten Kontakten zur AKP und derzeit wegen Korruptionsvorwürfen in US-Haft.

Ankara ist jedes unlautere Mittel recht. Mit seltsam zusammenkonstruierten Vorwürfen oder gar ohne Erklärung werden Menschen festgehalten. Die ausländischen Häftlinge dienen immer öfter als Druckmittel, um andere Staaten dazu zu zwingen, mutmaßliche Gülenisten auszuliefern. Ein regelrechter Gefangenenbasar.

Derweil hört die Verhaftungswelle nicht auf: Nun wurde ein Mitarbeiter der US-Botschaft in Ankara festgenommen, er sei Teil der Gülen-Bewegung, heißt es. Dieser Tage beginnt der Prozess gegen die deutsche Übersetzerin Meşale Tolu. Der Menschenrechtsaktivist Peter Steudtner soll 15 Jahre hinter Gitter. Wenn sich Berlin gegebenenfalls auf einen Gefangenen-Deal einlassen würde, wären Steudtner, Yücel oder Tolu in Sekundenschnelle frei. Das zeigt, wie fabriziert und durchsichtig die Vorwürfe gegen die Betroffenen sind.

Wie kann Ankara mit derart zweifelhaften Aktionen durchkommen? Mit den willkürlichen Verhaftungen, den Todesstrafendrohungen? Erstens: Die Türkei mag zwar seit der Putschnacht viele Kontakte zum sogenannten Westen aufs Spiel gesetzt haben, aber Konsequenzen hatte das alles nicht wirklich. Hier und da ein verbaler Schlagabtausch. Deutschlands Ankündigung, den Handel einschränken zu wollen, hat da eher für Nervosität gesorgt. Nun wollen die USA die Visumvergabe einschränken. Auch das ist eine schlechte Nachricht für die Türkei.

Zweitens: Bisher ist die türkische Wirtschaft trotz aller Unkenrufe nicht kollabiert, das hat Erdoğan freilich bestärkt. Auch die Tourismuskrise hat das Land noch wegstecken können. Drittens: Während Ankaras Leitungen zu Europa und den USA immer brüchiger werden, stärkt die Türkei ihre Beziehungen andernorts: Iran, Russland, Katar, China, derzeit weilt Erdoğan in der Ukraine. Die Wirtschaftsbeziehungen florieren, Menschenrechtsfragen sind hier praktischerweise kein Thema. Viertens: Innenpolitisch hat Erdoğan viele erbitterte Gegner, aber die Ausmerzung der klandestinen Gülen-Bewegung ist überparteilich approbiert. Das gibt der AKP mehr Freiraum. Und fünftens: Die AKP kontrolliert einen Großteil der Medien und Meinungsbildner. Viele Erdoğan-Anhänger glauben tatsächlich, dass Yücel oder Brunson Terroristen sind und die Welt den Aufstieg der Türkei stoppen will. Sie sehen nicht, dass die Regierung in ihrer Anti-Gülen-Paranoia dem Land schadet.

E-Mails an: duygu.oezkan@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.10.2017)

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