Leitartikel

Bitte mehr Zeit für Neues!

(c) APA/HANS KLAUS TECHT
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ÖVP und FPÖ kommen davon ab, wo sie eigentlich schon längst sein könnten. Die Angst, alte Fehler zu wiederholen, scheint zu groß zu sein.

Auslandskorrespondenten lieben Orte mit Google-Symbolwirkung. Dass Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache ihr Regierungsteam und das hart verhandelte dazugehörige Programm am Kahlenberg präsentieren, muss die Fantasie vieler Journalisten, die so gern vom Rechtsextremruck schreiben, in Österreich beflügeln. Von der hügelhaften Erhebung aus ritt Polenkönig Jan Sobieski mit seinem Heer zur Rettung Wiens gegen das Türkenheer 1683. Seither ist die Kapelle inoffizieller Pilgerort für Polen und militärische Nostalgiker. Die Identitären entzündeten hier auch schon ein paar Fackeln.

Aber ein Hügel kann sich seine Geschichte und Besucher eben nicht aussuchen, zudem ist der Blick wirklich hübsch. Die Seilbahn hinauf wird erst gebaut, die Höhenstraße gilt als Errungenschaft der Ära Dollfuß. Oppositionschef Christian Kern kann darauf hinweisen, dass dort touristisch-kulinarische Einrichtungen regelmäßig schiefgingen und dies ein Omen für den neuen Tourismus-Vizekanzler Strache sei. Oder dem Kanzler der Emotionen fällt ein, dass sich dort auch einmal die Wiener SPÖ in Klausur begeben hat.

Aber egal, es soll heute schließlich um Inhalte gehen. Und natürlich um Personen. Bei Redaktionsschluss kämpften vor allem auf ÖVP-Seite noch viele um zumindest einen Ärmel vom Leiberl. Aber klar ist und war: Die FPÖ setzte mit ihrem Regierungsteam auf die blaue Kernklientel, die ÖVP gibt weiter die Türkis-Liste mit neuen Namen. Bei der Kompetenzverteilung gab sich Kurz – sehr vorsichtig formuliert – generös bis brüderlich zur FPÖ. Bundespräsident Alexander Van der Bellen, der im Wahlkampf vollmundig angekündigt hatte, nicht jeden und jede anzugeloben, zeigt seinen Sinn für Humor. Wenn er nun mahnt, dass Justiz- und Innenministerium nicht von einer Partei geführt werden dürften, scheint er die jüngere Geschichte vergessen zu haben: Die ÖVP hatte de facto gerade beide Ressorts. Zudem war es nie geplant, dass die FPÖ die beiden Häuser übernimmt. Van der Bellen kann aber offenbar gut rauchen, wenn die Freiheitlichen Inneres und Verteidigung und somit die Kompetenz über alle Nachrichtendienste und fast alle Uniformierten erhalten. Na dann, die Parksheriffs bleiben zudem unter kommunaler Kontrolle. Inhaltlich hingegen ist die erste Lesung vieler Vorhaben überraschend.

Oder besser: Eigentlich müsste das Regierungsprogramm statt der Präambel vom vergangenen schwarz-blauen Experiment einen Epilog beinhalten, in dem der künftige Kanzler festhalten lässt, was alles nicht kommt: kein Ausstieg aus Ceta per Volks-, also „Krone“-Abstimmung, kein Öxit, keine Verringerung der Arbeitszeit, Aufhebung der Russland-Sanktionen, keine Rückholung Südtirols und so weiter und so fort. Dass derartige Selbstverständlichkeiten erwähnt werden müssen, beweist eine gewisse Jungfräulichkeit in Planung und Organisation dieser türkis-blauen Regierung. Sieht man vom mehr als tollpatschigen Verzicht auf ein Rauchverbot wie in Restwesteuropa ab, sind fast alle kolportierten Pläne von einer Absicht geprägt: keine allzu großen Risken eingehen, der großen Auseinandersetzung mit Gewerkschaften und Medien links der Mitte aus dem Weg gehen.

Es ist ein schmaler Grat, auf dem Kurz wandelt: Einerseits will er nicht die strategischen Fehler Wolfgang Schüssels wiederholen, ganz Europa und halb Österreich gegen sich aufzubringen, „überfahren“ lautete damals das Lieblingswort der insgeheim zufriedenen Gegner und Opfer. Die Große-Wellen-Vermeidung von Kurz mag strategisch sinnvoll sein. Unter „Zeit für Neues“ stellt man sich landläufig mehr als nur ein paar neue Gesichter vor, das würde auch unpopuläre Maßnahmen erwarten lassen, die etwa finanziell Spielraum für echte Reformen und Systemänderungen bringen, dazu gehört eben auch eine richtige Steuersenkung. Jeder vernünftige politische Beobachter weiß, dass man das Pensionssystem der Zukunft sichern muss – das hieße auch mit Beiträgen aktueller Bezieher. Vertrauensschutz gilt nicht nur für Pensionsempfänger, sondern auch für Beitragszahler.
Anders formuliert: Es ist nicht nur Zeit für Neues, sondern Zeit für Wahres.

E-Mails an: rainer.nowak@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.12.2017)

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