Europas fatale Alternativlosigkeit für den Westbalkan

Vier Jahre lang war Funkstille, nun hat die Europäische Kommission den Westbalkan wiederentdeckt.
Vier Jahre lang war Funkstille, nun hat die Europäische Kommission den Westbalkan wiederentdeckt.(c) REUTERS (SERGII POLEZHAKA)
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Die Balkanrepubliken sind wirtschaftlich und institutionell unreif für die EU. Es ist für beide Seiten bedenklich, ihnen eine "EU-Perspektive" vorzugaukeln.

Vier Jahre lang war Funkstille, nun hat die Europäische Kommission den Westbalkan wiederentdeckt. Ein neues Strategiepapier liegt auf dem Tisch, es verheißt den fünf Nachfolgestaaten Jugoslawiens (Serbien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro, Mazedonien, Kosovo) sowie Albanien eine „glaubwürdige Erweiterungsperspektive“ und gelobt „ein verstärktes Engagement der EU“. Erweiterungskommissar Hahn flog gleich nach Vorstellung dieses Papiers nach Belgrad und Podgorica, um die beiden fortgeschrittensten Länder zu mahnen und zu ermutigen. Selbiges wird Kommissionschef Juncker Ende des Monats tun, wenn er binnen fünf Tagen alle sechs bereist. Und im Mai wird es in Sofia zum ersten Westbalkangipfel mit den Spitzen aller Unionsmitglieder sowie jenen der sechs Balkanrepubliken seit 15 Jahren kommen. Als Ansporn, sich im europäischen Sinn staatlich, institutionell und ökonomisch zu erneuern, schillert erstmals das mögliche Beitrittsdatum 2025 für die Serben und Montenegriner am Horizont.

All dies scheint an der Wahrnehmung der Europäer vorbeizusegeln. Wird in Österreich, Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und anderswo darüber öffentlich debattiert? Leider nicht. Doch diese Aussicht sollte zum Gegenstand angestrengten Nachdenkens werden. Denn wie die Dinge stehen, bahnt sich entweder eine Wiederholung jener schweren Fehler an, welche die Union in den jüngsten beiden Erweiterungswellen beging, als sie institutionell und wirtschaftlich unreife Staaten aufnahm. Oder aber, das Beitrittsangebot ist gar nicht ernst gemeint. Diesfalls würde die Union ihr wirkmächtigstes (manche würden sagen: einziges) außenpolitisches Werkzeug irreparabel beschädigen: die Aussicht, einmal zum reichsten Club der Welt zu gehören.

Sind diese sechs Staaten tauglich, Unionsmitglieder zu werden? Daran muss die Kommission selbst zweifeln, so sie ihre eigene Strategie ernst nimmt: „In allen Ländern gibt es klare Anzeichen einer Vereinnahmung des Staats, die sowohl in der Korruption und den Verbindungen zur organisierten Kriminalität auf allen Regierungs- und Verwaltungsebenen als auch in der ausgeprägten Verquickung von öffentlichen und privaten Interessen ihren Ausdruck findet“, steht da geschrieben, und: „Keines der westlichen Balkanländer kann derzeit als funktionierende Marktwirtschaft betrachtet werden, und keines wäre in der Lage, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften in der Union standzuhalten.“

Die Befürworter der Erweiterungspolitik wenden hier ein, dass die Überwindung dieser Missstände Hauptzweck des Beitrittsverfahrens sei: In die EU darf nur, wer alle Hausaufgaben erfüllt. Diesem Argument haben die drei bereits beigetretenen Balkanstaaten nachhaltigen Schaden zugefügt. Bulgarien und Rumänien hängen seit 2007 in einem rechtsstaatlichen Überwachungsverfahren der Kommission, dessen Wirksamkeit man zart anzweifeln darf. Kroatiens politischer Klasse sämtlicher Couleurs wiederum gebricht es an der Reife, einen lächerlichen Grenzstreit mit Slowenien zu beenden.

Gibt es also keine Alternative für die Union, den Westbalkan geopolitisch an sich zu binden und vor allem der Jugend in diesen Staaten Hoffnung zu geben? „Ehrlich gesagt denke ich nicht über Alternativmodelle nach, weil das sofort die Einbindung dieser Länder zerstören würde“, sagte Hahn dieser Tage im Gespräch mit Europa-Korrespondenten.

Das ist ein deprimierender Befund. Er unterstellt den sechs Staaten, unfähig zu sein, sich beispielsweise zunächst zu einer Wirtschaftsunion zusammenzufinden, die in einem zweiten Schritt an die EU angekoppelt werden könnte. Wenn man es genau betrachtet, wohnen der behaupteten Alternativlosigkeit des Beitritts Spuren kolonialen Denkens inne: Die Wilden da unten werden ihrer eigenen Lage nicht Herr, also braucht es aufgeklärt-absolutistische Entwicklungshelfer aus Brüssel, die ihnen beibringen, wie man mit Messer und Gabel isst. So möchte sich kein Mensch behandelt fühlen. Erklärt das vielleicht, wieso die Zustimmung zur EU ausgerechnet beim „Musterschüler“ Serbien am niedrigsten ist – mit anämischen 26 Prozent?

E-Mails an:oliver.grimm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.02.2018)

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