Warum sich die Kurden erneut im Stich gelassen fühlen

Der Krieg in Syrien ist um ein grausames Kapitel reicher. Dafür haben die türkische Armee und ihre Verbündeten in Afrin gesorgt.
Der Krieg in Syrien ist um ein grausames Kapitel reicher. Dafür haben die türkische Armee und ihre Verbündeten in Afrin gesorgt.(c) APA/AFP/STRINGER
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Nach Afrin und dem missglückten Referendum im Irak eint die zersplitterten kurdischen Fraktionen eine Sorge: unter die Räder der Geschichte zu geraten.

Bewaffnete, die plündernd durch die Straßen ziehen. Zehntausende Zivilisten, die aus ihren Häusern fliehen. Der Krieg in Syrien ist um ein grausames Kapitel reicher. Dafür haben die türkische Armee und ihre Verbündeten in Afrin gesorgt. Nach Luftangriffen sind sie in die vorwiegend von Kurden bewohnte Stadt im Nordwesten Syriens eingerückt.

Und auch in einem anderen Teil des Landes spielt sich eine humanitäre Tragödie ab. Gemeinsam mit der russischen Luftwaffe haben syrische Regimetruppen die Rebellenenklave Ostghouta bei Damaskus sturmreif bombardiert – mit verheerenden Folgen für die Bevölkerung.

Afrin und Ostghouta scheinen Teil eines zynischen Tauschgeschäfts sein: Die türkische Regierung, die stets als Schutzherrin syrischer Rebellen aufgetreten ist, akzeptiert Ostghoutas Eroberung durch Syriens Regime. Im Gegenzug unternehmen Damaskus und Moskau nichts gegen den türkischen Einmarsch in Afrin. Russische Spezialkräfte wurden kurz vor Ankaras Offensive von dort abgezogen. Immerhin sitzen Russland, die Türkei und der Iran gemeinsam an einem Tisch, um über die Zukunft Syriens zu verhandeln. Und schon länger kursieren Gerüchte, man diskutiere – unter Beteiligung der USA – über die Aufteilung Syriens in Interessenzonen. Großmachtpoker auf dem Rücken der einfachen Menschen.

Der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdoğan, hat angekündigt, es nicht bei Afrin zu belassen. Er nimmt das ganze, de facto autonome Gebiet der Kurden in Syrien ins Visier. Und er droht damit, die Kampfzone bis in den Nordirak auszuweiten: Dabei nennt er als Ziel nicht nur das Qandilgebirge, in dem die kurdische Untergrundorganisation PKK ihr Hauptquartier hat, sondern auch Sinjar, das Siedlungsgebiet der Minderheit der Jesiden.

Schon jetzt ist die Lage in Sinjar explosiv. Die kurdische Regionalregierung in Erbil und die Zentralregierung in Bagdad streiten darum, wer die Oberhoheit über das Gebiet haben soll. Ein türkischer Militärschlag könnte die ohnehin schwer gebeutelte Gegend völlig ins Chaos stürzen.

Erdoğan argumentiert, Sinjar sei eine Hochburg der PKK. Tatsächlich sind hier ein Teil der jesidischen Kämpfer Verbündete der PKK und der YPG-Volksverteidigungseinheiten, die das kurdische Nordsyrien kontrollieren. Der Grund dafür ist einfach: Als im Sommer 2014 die Extremisten des sogenannten Islamischen Staates (IS) in Sinjar einrückten, um die Jesiden zu vernichten, stand die religiöse Minderheit zunächst weitgehend allein da. Die Ersten, die halfen und sich den Jihadisten entgegenstellten, waren YPG und PKK. Sie bewahrten so zahlreiche Jesiden vor der Ermordung oder Versklavung durch den IS.

Wegen der Hilfe im Kampf gegen den IS war in Europa bereits darüber diskutiert worden, die PKK von der EU-Terrorliste zu nehmen. Seit dem Ende des Friedensprozesses zwischen Ankara und der PKK im Juli 2015 ist das aber vom Tisch. Die syrische PKK-Schwesterorganisation YPG stand nie auf der Terrorliste. Ihre militärischen Erfolge machten sie in Syrien zum wichtigsten Verbündeten der USA und der Europäer gegen die IS-Jihadisten. Zahlreiche ihrer Kämpferinnen und Kämpfer ließen bei der Vertreibung des IS ihr Leben. Auch in Afrin haben die YPG lang verhindert, dass der IS und andere jihadistische Gruppen einrücken. Jetzt wurden die YPG von dort von der Türkei verdrängt.


Die USA haben sich bisher herausgehalten. Zwar sind die YPG Alliierte Washingtons, doch Afrin liegt nicht im Einflussgebiet der US-Truppen. Das befindet sich weiter östlich. Sollte Ankara tatsächlich auch dort gegen die kurdischen Kämpfer vorgehen, müssen sich die USA entscheiden, wem sie helfen.

Schon jetzt klagen die YPG, im Stich gelassen worden zu sein. Vom zweiten „Verrat an den Kurden“ binnen kurzer Zeit ist die Rede, und zwar auch bei Kurden, die YPG und PKK durchaus kritisch gegenüberstehen. Der erste Verrat sei, dass aus den USA und Europa Hilfe für Nordiraks Kurden beim Unabhängigkeitsreferendum im September ausblieb. Die sonst so zersplitterten kurdischen Fraktionen eint derzeit eine Sorge: erneut unter die Räder der Geschichte zu geraten.

E-Mails an:wieland.schneider@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.03.2018)

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