Leitartikel

Von einer Orbánisierung Europas kann keine Rede sein

So wichtig ist der Mann auch nicht.
So wichtig ist der Mann auch nicht.(c) APA/AFP/FERENC ISZA
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Viktor Orbáns Bedeutung wird heillos übertrieben. Er ist Premier eines mittelgroßen EU-Staats an der Peripherie und sein Einfluss in Europa limitiert.

Viktor Orbán kämpft schon seit Jahren weit über seiner Gewichtsklasse in der europäischen Arena. Dem ungarischen Premier wird eine Aufmerksamkeit zuteil, als wäre er Anwärter auf den Titel des Schwergewichtseuropameisters. Das ist erstaunlich, denn Ungarn bringt mit seiner bescheidenen Wirtschaftskraft, die einem Drittel der österreichischen entspricht, und seinen zehn Millionen Bürgern in der 511-Millionen-Einwohner-EU eher ein Bantamgewicht auf die Waage.

Trotzdem wird aufgeregt so getan, als hingen Wohl und Wehe Europas vom Populisten aus der Puszta ab, als stünde der Kontinent vor einer unaufhaltsamen Orbánisierung. Nach dem fulminanten Wahlsieg des ungarischen Premiers schossen die Warnungen vor einer Ausweitung des Morbus Orbán nur so ins Kraut. Besonders dramatisch heulte der diplomatische Oberarzt Luxemburgs, Jean Asselborn, auf. Alle EU-Mitglieder müssten sich nun zusammentun, um den Budapester „Wertetumor“ zu neutralisieren, forderte der sozialdemokratische Außenminister des Großherzogtums. Welche operativen Eingriffe er sich vorstellt, wollte oder konnte der Moralonkologe nicht verraten.

Orbán wird sich über jede Wortmeldung freuen, die seine Bedeutung auflädt. Gewiss: Er hat in Europas sozialdemokratisierter Christdemokratie eine gewisse konservative Leerstelle besetzt, dem Volk aufs Maul geschaut und zum dritten Mal in Folge bewiesen, dass sein nationalistischer, illiberaler Ansatz mehrheitsfähig ist. Es jedoch zur großen europäischen Fahnenfrage hochzuziehen, wie man es mit Orbán hält, ist dann doch zu viel der Ehre. So wichtig ist der Mann auch nicht. Die Fixierung auf Orbán zeigt nur, wie inhaltsleer Richtungsdebatten in Europas ideologischem Einbahnverkehr geworden sind.

Nüchtern betrachtet, hat sein nationalkonservatives Eigenbaumodell einer abgeschotteten Demokratie mit autoritären Zügen jedoch außerhalb der Grenzen Ungarns bisher keine erfolgreichen Nachahmer gefunden. Rechtspopulisten von Frankreich bis Österreich sind schon länger auf dem Trip. Und in Polen, einem im europäischen Kontext übrigens weitaus gewichtigeren Land als Ungarn, sind keine Epigonen am Werk: Jarosław Kaczyński hat seine sozialnationale Anti-EU-Rezeptur ohne ungarische Inspiration zusammengemischt. Er fährt einen konfrontativeren Kurs gegen Brüssel als Orbán, hat ein Grundrechtsverfahren riskiert, aber vor einer Kaczyńskisierung Europas warnt trotzdem keiner. Und die Slowakei? Dort hinkt der Vergleich mit Orbán gleich auf mehreren Beinen: In Bratislava ist eine linkspopulistische Partei an der Macht, die zuletzt mit rund 26 Prozent bei Weitem nicht so stark war wie Ungarns Fidesz (48,9 %) oder die polnische PiS (37,5 %) und es sich im Zweifel gut stellt mit der EU. Welche Richtung Tschechien, das vierte Mitglied der letztlich heterogenen Visegrád-Gruppe, unter dem ideologiefreien Oligarchen Andrej Babiš einschlägt, wird sich erst weisen.

Das einzige Thema, bei dem die vier energisch an einem Strang ziehen, ist die Migration. Sie wollen sich von Brüssel keine Flüchtlinge aufzwingen lassen. Und da kommt Orbán tatsächlich eine Führungsrolle zu. Es ist ihm während der Flüchtlingskrise gelungen, sich als Gegenspieler Merkels in Szene zu setzen.

Das war auch sein Ass in seinem Wahlkampf, der nur ein Thema kannte: Migration. Orbán redete den Ungarn ein, dass nur er sie vor muslimischen Horden schützen könne, die US-Milliardär Soros in einem verschwörerischen Plan nach Europa locke. Das ist zwar Unfug: Denn es gibt keinen Soros-Plan, und es will auch kaum ein Muslim freiwillig in Ungarn leben. Doch Orbáns Feindbildpopanz-Taktik ging auf. Die Ungarn wählten ihn wieder. Auch weil es ihnen besser geht als vor acht Jahren. Weil die zersplitterte Opposition keine ernsthafte Alternative darstellt. Und weil sie wohl stolz darauf sind, dass Ungarn unter Orbán etwas gilt in der Welt.

Aus dem Urnengang in einem mittelgroßen Mitgliedstaat an der Peripherie jedoch einen Trend abzuleiten, der die EU in ihren Grundfesten erschüttere, wäre maßlos übertrieben. In Ungarn fand eine demokratische Wahl statt, die es zu respektieren gilt. Wer Orbán dämonisiert, spielt ihm nur in die Hände.

E-Mails an: christian.ultsch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.04.2018)

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