Leitartikel

Was will Österreich? Der EU-Vorsitz als Forschungsprojekt

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BELGIUM-EU-AUSTRIAAPA/AFP/JOHN THYS
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Die Welt wird nicht aufhören, sich zu drehen, nur weil österreichische Minister den Ratsvorsitz übernehmen. Wien muss seine Schwerpunkte klug setzen.

Wenn eine Bundesregierung eine Reise tut, dann kann sie anschließend nicht nur was erzählen, sondern sie erzeugt damit auch reichlich Stoff für Unterhaltungen. Die gestrige Exkursion des Kabinetts Kurz war in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Da die eintägige Dienstreise des Ministerrats nach Brüssel in die Zeit zwischen der schriftlichen und der mündlichen Matura fiel, wurde sie mit diversen schulischen Assoziationen bedacht. Das eine Mal war vom fliegenden Klassenzimmer die Rede, ein anderes Mal von der Sportwoche, auch der Vergleich mit einer Maturareise kam unweigerlich auf. Der humoristische Kaloriengehalt dieser und anderer Beschreibungen sollte allerdings nicht davon ablenken, dass der Vergleich des gestrigen Ministerrats mit einer Schulsituation einen ernsthaften Hintergrund hat – nämlich die bevorstehende Übernahme des EU-Vorsitzes durch Österreich. Und diese auf sechs Monate befristete Aufgabe lässt sich sehr gut mit einem Forschungsprojekt vergleichen.

Wer sich jemals wissenschaftlich betätigt hat, weiß, dass am Anfang aller Arbeit die Forschungsfrage steht. Ist sie zu weit gefasst, franst das theoretische Unterfutter aus, und man weiß am Ende gar nicht, was man eigentlich erforschen möchte. Wird die Forschungsfrage zu eng formuliert, kommt man ebenfalls kaum voran, denn dieser Weg führt vorbei an allgemeingültigen Erkenntnissen in eine Sackgasse, die mit real existierenden Gegebenheiten nichts zu tun hat. Deshalb ist die richtig formulierte Forschungsfrage die Conditio sine qua non der Wissensgewinnung.

Was hat dieser Ausflug in die Welt der Wissenschaft mit dem EU-Vorsitz zu tun? Mehr, als auf den ersten Blick ersichtlich ist. Denn die Tatsache, dass österreichische Minister in wenigen Wochen den EU-Ratstreffen vorsitzen werden, verlangt von der Bundesregierung die Beantwortung der folgenden Frage: Was will Österreich von der EU, und wie kann es dafür sorgen, dass österreichische Anliegen möglichst weit oben auf der europäischen Agenda stehen? Im Idealfall funktioniert der Vorsitz wie ein Brennglas, durch das die unterschiedlichen Interessen fokussiert werden. Denn die inhaltliche Bandbreite, die dem Vorsitzland während der sechsmonatigen Funktionsperiode zur Verfügung steht, ist denkbar klein. Wer sich durchsetzen will, muss sich auf ein, höchstens zwei Themen konzentrieren.


Zusätzlich verringert wird der österreichische Aktionsradius durch die Tatsache, dass die Welt am 1. Juli nicht aufhören wird, sich zu drehen, nur weil Heinz-Christian Strache im Rat für Bildung, Kultur, Jugend und Sport die Rolle des Zeremonienmeisters übernimmt und Elisabeth Köstinger dem Agrarrat vorsitzen wird. Einen beträchtlichen Teil der Bandbreite werden die Verhandlungen über den EU-Austritt Großbritanniens beanspruchen, die im Herbst in die heiße Phase treten. Auch der sich abzeichnende Handelskrieg gegen die erratisch agierenden USA wird Ressourcen binden, detto die Bemühungen um die Rettung des Atomabkommens mit dem Iran. Von der angesichts der Entwicklungen in Italien dringend benötigten Reform der Währungsunion und den anlaufenden Verhandlungen über das EU-Mehrjahresbudget ganz zu schweigen.

Österreich wird es nicht leicht haben, inhaltliche Duftmarken zu setzen. Der Fokus auf die Sicherung der EU-Außengrenzen ist insofern wichtig und richtig, als er erstens ein tatsächlich vorhandenes Problem aufgreift und dieses Problem zweitens den allermeisten Mitgliedstaaten ein großes Anliegen ist. Allerdings muss sich Wien davor hüten, die Forschungsfrage Grenzschutz allzu eng auszulegen. Die Fetischisierung diverser Balkanrouten droht die Aufmerksamkeit vom großen Ganzen abzulenken.

Wie könnte nun der ideale österreichische EU-Vorsitz aussehen? Die Austrittsverhandlungen mit London gehen amikal aus; der Handelsstreit mit Donald Trump lässt sich entschärfen; die Außengrenzen der Union werden dichter; die Euro-Reform nimmt Gestalt an; und die Österreicher selbst haben am 31. Dezember eine bessere Vorstellung davon, wie sie die Union mitgestalten wollen. Was Letzteres anbelangt, ist die „Maturareise“ nach Brüssel ein guter Anfang.

E-Mails an: michael.laczynski@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.06.2018)

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