Die Spannungen in der EU geraten außer Kontrolle. Statt die Migrationsfrage aufzukochen, ist es Zeit, sie endlich abzukühlen – und zu lösen.
Ein innerdeutscher Konflikt, der Berlin zum neuen Stabilitätsrisiko in Europa macht, der EU-Austritt eines der wichtigsten Mitgliedsländer, das Abdriften von mehreren osteuropäischen Staaten in unberechenbare, autoritäre Systeme und dazu überbordende Emotionen zum Migrationsthema: Auch nach dem EU-Gipfel dieser Woche sind die Wunden der Europäischen Union nicht geheilt. Aber es sind nicht nur diese Wunden, die Sorgen bereiten sollten, es ist auch der Seelenzustand in dieser Gemeinschaft, in der plötzlich Streit und Aggression das Arbeiten an gemeinsamen Zielen verunmöglichen. Denn die 28 Staats- und Regierungschefs retten sich nach nächtelangen Sitzungen nur noch von Ankündigung zu Ankündigung.
Mitten in dieser schwierigen Situation übernimmt Österreich den EU-Vorsitz. Eine Aufgabe, die impliziert, dass eigene innenpolitische Interessen vorerst in den Hintergrund treten müssen. Zu wünschen ist das insbesondere bei der Migrationsfrage. Denn nichts würde der Lösung dieser heiklen Frage mehr helfen, als wenn ein Stück der Aufregung wieder den realen Fakten weicht. Die Bilder von Flüchtlingsbooten im Mittelmeer, der Aktionismus der neuen italienischen Regierung und der Asylstreit von CSU und CDU dürfen nämlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Zahl der Asylanträge in der EU kontinuierlich sinkt und seit dem vergangenen Jahr wieder ein Niveau wie vor der Migrationswelle 2015 erreicht hat. Den größten Rückgang im letzten Quartal gab es übrigens in Österreich.
Das nimmt die Staats- und Regierungschefs nicht aus der Pflicht, endlich Lösungen zu entwickeln, wie es vermieden werden kann, dass sich Menschen weiterhin auf Schlauchbooten in Richtung Europa aufmachen. Ein erster kleiner Schritt ist beim EU-Gipfel zwar gegangen worden, aber eben nur ein kleiner. Es braucht neben konsequenten Kontrollen an der Außengrenze nun auch realistische Möglichkeiten für wirklich verfolgte Menschen, in Zukunft einen sicheren Platz zu finden – das kann auch nur temporär sein, bis die Gefahr in ihrer Heimat gebannt ist. Europa kann, wenn es seine christliche Tradition nicht verleugnet, keine Mauern hochziehen und die Augen vor dem Leid dieser Menschen verschließen. Dass es dieses Leid nach wie vor gibt und es sich nicht – wie gern behauptet wird – fast nur um Wirtschaftsflüchtlinge handelt, belegt die Zahl der positiv entschiedenen Asylanträge etwa in Österreich. Trotz aller Verschärfungen wurden im vergangenen Jahr 50,4 Prozent der Anträge positiv abgeschlossen.
Eine Lösung ist möglich, wenn Österreichs Regierung als amtierende EU-Ratspräsidentschaft hilft, die Spannungen rund um dieses Thema abzubauen. Ein eigenes Gipfeltreffen am 20. September in Salzburg wird sich der Frage annehmen. Es könnte hier gelingen, einige der notwendigen weiteren Schritte zu fixieren, etwa in der Frage, wie gemeinsam mit dem UNHCR sichere Zentren in Nordafrika aufgebaut werden können, in denen die Vorentscheidung über die Schutzbedürftigkeit dieser Menschen fällt. Mit Gelassenheit und Entschlossenheit ist dies möglich, mit einem ständigen Aufkochen der Emotionen oder gar mit Einmischen in innerdeutsche Konflikte eher nicht.
Bundeskanzler Sebastian Kurz hat mit seinem Elan und seinen rhetorischen Fähigkeiten Vorschusslorbeeren erhalten. Ein Stück muss er nun über seinen eigenen innenpolitischen Schatten springen, um etwas Nachhaltiges für das gemeinsame Europa zu erreichen. Denn während die 28 EU-Regierungen dieses Projekt durch Unentschlossenheit und Egoismus gefährden, gewinnt es in der Bevölkerung wieder an Zustimmung. Selbst in Ländern wie Ungarn hält eine klare Mehrheit die europäische Zusammenarbeit für eine „gute Sache“. Die Zustimmung steigt seit der Bewältigung der Eurokrise auch in skeptischen Ländern wie Österreich. Am positivsten, so belegte eine Umfrage der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik, sind aber Jugendliche eingestellt. 70 Prozent sehen die EU heute als „gute Sache“.
Sebastian Kurz ist der bisher jüngste EU-Vorsitzende, er sollte etwas für seine Generation tun.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.06.2018)